Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise ...
von aweiawa
© by aweiawa, 2012
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden.
Diese vier Zeilen stammen aus dem Gedicht „Stufen“ von Hermann Hesse. Sie enthalten so unendlich viel Lebensweisheit und vermögen Trost zu spenden. Zudem stammen sie aus meinem Lieblingsgedicht und ich nehme sie zum Anlass, statt einer Textinterpretation, die jeden Leser nur verjagen würde, einige Episoden zu erzählen, die in irgendeiner Form mit diesem Ausschnitt aus Hesses Gedicht zusammenhängen.
Reisen bildet, und wer sich auf Reisen begibt, der kann etwas erleben, sagt der Volksmund. Doch dass diese Erlebnisse nicht immer dazu angetan sind, sich auch nach Jahren noch an ihnen zu ergötzen, soll die erste Episode belegen.
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Herr Santhrop macht Urlaub
Herr Michael Ignatius Santhrop genoss die Abgeschiedenheit seiner Zweizimmerwohnung im Frankfurter Westend, die er seit Jahren nur selten verließ. Er mochte die Menschen nicht, und erst recht keine Fremden. Dabei waren ihm Menschen anderer Länder und Hautfarbe keineswegs verhasster als seine nächsten Nachbarn. Doch es war für ihn evident, dass nirgendwo vernünftige und vor allem erträgliche Zeitgenossen zu finden waren. Also blieb er lieber zu Hause und ertrug die ihm bestens bekannte Dummheit der Menschen seiner unmittelbaren Umgebung, als sich der vielleicht noch größeren Borniertheit Unbekannter auszusetzen.
Doch dann gewann er dieses Preisausschreiben. Nicht den ersten Preis, auf den er spekuliert hatte, sondern den dritten. Eine Reise nach Isny im Allgäu, Vollpension, mit Familienanschluss. Ein sommerlicher „Traumurlaub“ auf dem Land.
Da er den ersten Preis, eine limitierte Sonderedition der Werke seines Lieblingsphilosophen Schopenhauer, nicht gewonnen hatte, haderte er mit sich und dem Schicksal.
„Michael Ignatius“, so pflegte er sich anzureden, „du bist ein Idiot! Warum nur hast du an diesem Preisausschreiben teilgenommen? Jetzt musst du in diesen unbekannten und mit Sicherheit übervölkerten Ort fahren, um das Landleben zu genießen! Wie kann man nur so blöd sein und den dritten Preis gewinnen?!“
Ja, es war entschieden, diesen Preis durfte er nicht verfallen lassen, auch wenn er sich nichts als Ärger davon versprach - denn einen Gewinn nicht in Anspruch zu nehmen, hätte zu sehr gegen sein Ethos verstoßen. Zudem war er als letzter Spross eines verarmten Adelsgeschlechts darauf angewiesen, zu nehmen, was ihm geboten wurde.
Sein Auto stand derzeit nicht zur Verfügung. Genau genommen war es nur noch ein Haufen Schrott, seit ein Lastwagenfahrer dem einem ständigen Duell gleichenden Fahrstil Herrn Santhrops getrotzt und sich dummerweise als der Stärkere erwiesen hatte.
So blieb ihm nichts anderes übrig, als mit dem Zug zu fahren. Ein Horrorszenarium, dem sich Herr Santhrop nur im äußersten Notfall aussetzte.
Ein Erste-Klasse-Abteil kam aus Kostengründen nicht infrage, also griff er auf die bewährte Sockenstrategie zurück. Dicke Strümpfe, Tag und Nacht getragen, mindestens zwei Wochen lang, schlugen selbst den hartnäckigsten und lästigsten Mitfahrer in die Flucht. Meist musste er nicht einmal zur ultimativen Waffe greifen und die Schuhe ausziehen, doch wenn der Zug überfüllt und infolgedessen die Anzahl der potenziellen Konkurrenten auf das Abteil recht hoch war, griff Herr Santhrop ohne Gnade zu diesem letzten Mittel.
Doch am Reisetag war der Zug nur halb gefüllt und Herr Santhrop konnte ohne ultimative Maßnahmen ein Abteil für sich beanspruchen. Als er in Isny den Zug verließ, war der Reisende fast gut gelaunt – ein seltener Zustand.
Ein Taxi war bald gefunden, und der bedauernswerte Chauffeur war heilfroh, dass sein Fahrgast auf der Rückbank Platz genommen hatte. Trotz weit geöffneter Fenster dem Ersticken nahe, nahm er am Ziel sein Geld mit spitzen Fingern entgegen. Der Plan, auf dem schnellsten Weg zum nahegelegenen Fluss zu fahren, dort sein Taxi zu versenken und es anschließend als gestohlen zu melden, verflüchtigte sich genauso schnell aus seinem Hirn wie der Gestank aus dem Auto.
Da stand nun Herr Santhrop, seinen Koffer in der Hand, vor dem einsamen Bauernhaus. Landleben und Familienanschluss erwarteten ihn, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
„Ah, da bist du ja! Wir haben dich schon erwartet.“
Die Begrüßung des jungen, dreisten Burschen wirkte auf den bis dato immer noch leidlich gut gelaunten Herrn Santhrop wie ein den Lodenmantel lupfender Exhibitionist auf eine Nonne. Nichts hasste er mehr, als die Anbiederung des Du bei der ersten Begegnung. Schon gar nicht von solch einem Dreikäsehoch wie diesem primitiven Bauernlümmel. Die dargereichte Hand ignorierte er geflissentlich und trat in die gute Stube.
Ein Blick in die Runde bestätigte seine schlimmsten Befürchtungen. Die Jungbäuerin, kaum 30 Jahre alt, die nur mit Mühe ihre wild durcheinander krakeelenden Bälger im Zaum halten konnte, stieß ihm ein herzhaftes „Grüß Gott!“ entgegen, während eine am Ofen sitzende, verhutzelte Alte lediglich ein debiles Grinsen für ihn übrig hatte.
Diese Art der Begrüßung empfand er als blasphemische Verhöhnung seiner Person, also bellte er los:
„Wo ist mein Zimmer?“
Die betroffenen Gesichter hoben seine Laune ein wenig, doch die Ausstattung des Gastzimmers ließ seine Züge endgültig entgleiten. Hellblau gestrichene Wände, dieses verhasste Kreuz mit dem masochistischen Menschenfreund an der Wand, und zu allem Überfluss ein Baldachin über dem Bett. Eine Folterkammer hätte nicht abschreckender wirken können. Wie sehnte sich Herr Santhrop nach seiner Kammer mit den grau gestrichenen, kahlen Wänden.
„Ruhe wohl“, verabschiedete sich der Bauerntrampel und hatte bereits auf dem Absatz kehrt gemacht, als Herr Santhrop noch mit dem Ausfeilen von Flüchen beschäftigt war.
„Du selten blödes Arschloch!“, polterte er als Letztes, wobei offen blieb, ob er damit seinen Gastgeber, diesen Bauerntrampel, oder gar sich selbst titulierte.
Die überfällige Dusche nebst intensivster Bearbeitung der Füße mittels einer Wurzelbürste sollte die letzte Aktivität des Herrn Santhrop an diesem Abend gewesen sein. Vollkommen erschöpft stürzte er ins Bett und sank sogleich in einen tiefen Schlaf, aus dem er allerdings nach kurzer Zeit wieder erwachte.
Schweiß stand auf seiner Stirn und er brauchte geschlagene fünf Minuten, um festzustellen, was so gravierend anders war als zu Hause und ihm den Schaf raubte.
Diese grässliche Stille! Kein Ton, kein Laut, kein Hupen eines Autos. Nichts als diese unheilschwangere Abwesenheit von Lärm jeglicher Art. Als Herr Santhrop endlich begriffen hatte, sprang er mit beiden Beinen zugleich aus dem Bett.
Leiderprobt aus früheren geschäftlichen Aufenthalten in Hotels im ländlichen Raum, führte Herr Santhrop diesmal eine selbst komponierte CD mit sich, die ihm gegen die unerträgliche Stille eine hartgeschmiedete Waffe zur Seite stellte. Aufnahmen des Verkehrslärms am Kamener Kreuz zur Rushhour, unterlegt mit dezentem Panzerkettengerassel vom Truppenübungsplatz Haunstein-Simmersdorf und angereichert mit einer Prise Lokalkolorit des nächtlichen Frachtflug-Verkehrs auf der Startbahn-West, waren Argumente, gegen die keine noch so perverse Stille ankam.
Doch ach, ein grässlicher Fluch zerriss die nervenzerrüttende Stille. Der Akku des mitgebrachten tragbaren CD-Players war leer und eine Steckdose gab es im ganzen Zimmer nicht.
So verbrachte Herr Santhrop die Nacht, mit Kopfhörern auf den Ohren, einem schwarzen Nachthemd bekleidet und auf der hölzernen Klobrille sitzend, in der Etagentoilette. Seine geliebten Klänge im Ohr entschlummerte er trotz der unbequemen Stellung in kürzester Zeit.
Wie gerädert wachte er gegen drei Uhr auf und stolperte durch das völlig dunkle Haus.
Atembeschwerden und Schweißausbrüche waren Grund genug, die Stellung aufzugeben und das Heil in der Flucht zu suchen. Den Koffer, den er zum Glück noch nicht ausgepackt hatte, in der Hand, marschierte er los. Keine Minute länger ertrug er dieses Haus. Lieber in seiner Frankfurter Wohnung auf Jahre lebendig begraben sein, als diese Folter auch nur eine Minute länger aushalten zu müssen!
Dass es in diesem vermaledeiten Haus keine Lichtschalter gab, die sich im Dunkeln finden ließen, trieb ihn zur Weißglut, und als er sich bis zur Treppe vorgearbeitet hatte, wäre er beinahe hinabgestürzt.
„Denen werd ich’s zeigen“, steigerte sich seine Wut gegen das Haus und dessen Bewohner. Unten angekommen, öffnete er in vollkommener Dunkelheit den Koffer, ertastete die Plastiktüte, in der seine Socken geruchssicher verstaut waren, und zerriss den Kunststoff - ein Haifischlächeln stahl sich in sein Gesicht, obwohl die Geruchsnerven Alarmsignale zum Gehirn sandten. Ohne Abschiedsgeschenk würde er nicht verschwinden!
Mit ausgestrecktem Arm und spitzen Fingern ergriff er die qualmenden Socken, kniete sich auf den Boden und kroch in die Richtung, in der er den Wohnzimmerschrank vermutete.
Den heftigen Schmerz, der ihn bei der Kollision mit einer spitzen Kante desselben überfiel, ignorierte Herr Santhrop mannhaft, lediglich ein leiser, ellenlanger Fluch ließ sich nicht unterdrücken. In unbeirrbarer Erfüllung seiner Mission stopfte er die stinkenden Socken derart tief unter den Schrank, dass sie von niemandem zu sehen sein würden
Kaum hatte er sein Werk vollbracht, durchzuckte ein plötzlicher heftiger Schmerz seine Rechte. Wie von Taranteln gestochen fuhr er hoch, schleuderte die Maus, die sich in seinen Finger verbissen hatte, quer durch den Raum und rannte zu seinem Koffer, um diesen ungastlichen Ort auf dem schnellsten Weg zu verlassen. Leider hatte er vergessen, dass ihm dabei der Tisch im Weg stand, und als er mit dem empfindlichen Körperteil, das die Schöpfung unseligerweise genau in Tischhöhe angebracht hat, gegen dessen verflucht spitze Ecke stieß, stürzte er vor Schmerzen schreiend zu Boden, schlug mit dem Kopf auf den harten Fliesenboden und ... erwachte im Bezirkskrankenhaus von Isny. Um sein Bett herum wuselten kleine Kinder, eine Frau, die ihm vage bekannt vorkam, zupfte an seiner Bettdecke herum, und als ihm die laute Stimme des Bauerntrampels mit einem „Grüß Gott, Herr Santhrop“ ins Ohr dröhnte, versuchte er zu fluchen, doch er brachte keinen Ton hervor. Durch den Unfall waren seine Stimmbänder gelähmt.
Ein Arzt trat ein und wandte sich an den Wortlosen:
„Herr Santhrop, ich habe eine gute Nachricht für Sie. Familie Huber hat sich bereit erklärt, sie bei sich zu Hause aufzunehmen und zu pflegen. Aus ärztlicher Sicht ist das für sie das Beste.“
Dann wandte er sich an das Bäuerlein:
„Sehen Sie, Herr Huber, seine Augen füllen sich mit Tränen der Dankbarkeit.“
An einem Preisausschreiben, das stand fest, würde Herr Santhrop nie wieder teilnehmen.
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Nicht jede Reise endet in einem derartigen Fiasko, sonst wäre die Fremdenverkehrsindustrie schnell am Ende. Im Allgemeinen verbinden wir mit einer Reise nicht Mühsal und Bedrängnis, sondern Spaß und grenzenlose Freiheit. Doch dass diese nicht immer über den Wolken zu finden ist, sondern manchmal viel näher in Wald, Feld und Flur, wird die nächste Episode vor Augen führen. Doch Vorsicht, lasst euch nicht aufs falsche Gleis locken.
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K139-5
„Entschuldigen Sie bitte, darf ich Ihren Namen erfahren?“
„Natürlich, ich heiße … äh, Jaqueline. Und Sie?“
„Elsa. Ich hätte eine Bitte an Sie, Jaqueline.“
„Ja, was kann ich für Sie tun?“
„Könnten Sie ein bisschen zur Seite rücken, ich fühle mich so beengt.“
„Ach kommen Sie, hier ist es doch nicht eng. Sie sollten mal sehen, wie es bei uns zu Hause zugeht. Da ist der Platz hier drinnen ja fast ein Luxus.“
„Noch enger als hier? Da bekäme ich ja überhaupt keine Luft mehr. Und dieses entsetzliche Ruckeln macht mich noch wahnsinnig.“
„Ja, das stört mich auch, Elsa. Das wäre ein Grund, sich zu beschweren.“
***
„Sagen Sie mal, wissen Sie, wohin wir fahren, Jaqueline?“
„Nein, ich habe keine Ahnung. Ich kenne mich in der Welt nicht aus, bin selten von zu Hause weggekommen.“
„Mir ist überhaupt nicht wohl. Jetzt sind wir schon so lange unterwegs, es ist heiß hier drinnen und ich habe Durst.“
„Mir scheint, Sie sind ganz schön verwöhnt, meine Beste. Immerhin haben wir ein Fenster, durch das ein wenig Luft hereinkommt, und wir können hinausschauen. Etwas Interessanteres kann ich mir nicht vorstellen. Schauen Sie doch nur, diese Farben! Eine ist dabei, die habe ich noch nie gesehen.“
„Wie kann man eine Farbe noch nie gesehen haben? Ich glaube, Sie wollen mich verarsch... Oh, entschuldigen Sie bitte.“
„Nur nicht so zimperlich, Elsa. Aber ich sage die reine Wahrheit, wie heißt denn die Farbe, in der diese große Fläche da draußen gestrichen ist?“
„Meinen Sie mit Fläche etwa diese Wiese da?“
„Wiese heißt sie also!?“
„Aber Jaqueline, Sie werden mir doch nicht einreden wollen, dass Sie noch nie eine Wiese gesehen haben?“
„Hab ich wirklich noch nie, aber ... sie gefällt mir, diese Wiese. Irgendwie bin ich ganz verliebt in sie.“
„Sie ist grün.“
„Grün? Ich dachte Wiese.“
„Die Farbe. Sie heißt Grün.“
„Oh, hört sich toll an, dieses Wort. Grüüüün, das kann man sich auf der Zunge zergehen lassen. Grüüüün. Es klingt irgendwie … saftig“
***
„Jaqueline, darf ich Sie etwas fragen?“
„Aber natürlich, Elsa. Ich unterhalte mich gerne mit Ihnen. Sie sind nett und wissen so viel.“
„Ach, machen Sie mich bitte nicht verlegen! Aber was ich fragen wollte: Haben Sie Kinder?“
„Oh ja, viele.“
„Und das Jüngste, ist es noch bei Ihnen?“
„Nein, natürlich nicht. Warum fragen Sie?“
„Weil meines verschwunden ist. Vor drei Tagen. Wie all die anderen zuvor.“
„Aber das ist doch ganz normal. Wenn sie geboren sind, verschwinden sie wieder.“
„Und trotzdem fällt es mir so schwer. Ein halbes Jahr ist so kurz!“
„Ich weiß, wie lange ein halbes Jahr ist, aber was hat das mit den Kindern zu tun?“
„Na, so lange bleiben sie doch bei einem.“
„Aber Elsa, jetzt wollen Sie mich verarschen! Wer hat so was schon mal gehört?“
„Wieso machen Sie sich über meine Trauer lustig, Jaqueline? Habe ich Ihnen was getan?“
„Aber Elsa, die Kinder kommen doch sofort nach der Geburt weg. Das war noch nie anders. Sie wollen doch nicht wirklich behaupten, dass ...“
***
„Eben waren Sie noch so traurig, liebe Elsa, und nun lächeln Sie zufrieden. Woran denken Sie?“
„Erinnerungen, Jaqueline, das sind Erinnerungen.“
„Sie Glückliche. Woran haben Sie gerade gedacht, ich möchte mich mit Ihnen freuen.“
„An den Vater meiner Kinderchen.“
„Was ist das, Vater meiner Kinderchen?“
„Aber Jaqueline?! Haben Sie nicht eben noch gesagt, Sie hätten auch Kinder gehabt? Viele sogar?“
„Schon, aber ich verstehe Ihre Ausdrucksweise nicht.“
„Hannibal heißt er, der Wilde, wie ich ihn immer bei mir nenne. Es war himmlisch mit ihm. Wer hat Ihnen denn die Kinder gemacht, Jaqueline, wie hieß er und wie sah er aus? War er groß und kräftig?“
„Darüber möchte ich nicht reden!“
***
„Jaqueline, darf ich fragen, wie alt Sie sind? Mir scheint, Sie sind viel jünger als ich. Obwohl ich ja gar nicht gut im Schätzen bin.“
„Ich bin ziemlich genau fünf Jahre alt, und Sie?“
„Elf. Aber ich muss mich wundern, mit fünf schon auf Reisen. Bei uns zu Hause geht niemand vor seinem zehnten Lebensjahr auf Reisen.“
„Was?! Elf?! Es ist an mir, sich zu wundern, denn ich habe noch niemals jemanden in Ihrem Alter getroffen. Und Sie sehen noch so blendend aus, Elsa, mein Kompliment.“
„Sie schmeicheln mir, Jaqueline!“
„Nein, im Gegenteil. Ihr Haar glänzt wunderbar, und meines … ist stumpf. Wie haben Sie das nur geschafft?“
„Ich glaube, das liegt am Essen. Denn im Winter werden meine Haare auch etwas stumpf. Da gibt es ja auch kaum frische Sachen.“
„Ich weiß zwar nicht genau, was Sie mit frischen Sachen meinen, Elsa, doch daran wird es liegen. Wenn ich zurück bin, werde ich danach fragen. Nach frischen Sachen.“
***
„Ach Elsa, ich muss Ihnen etwas gestehen, es liegt mir auf der Seele, seit wir uns kennen gelernt haben.“
„Nur heraus damit! Drüber reden ist allemal besser, als es in sich zu vergraben.“
„Es ist mir peinlich, aber eigentlich … heiße ich gar nicht Jaqueline, sondern K139-5. Doch ich finde, das klingt nicht halb so gut wie Jaqueline ... oder Elsa.“
„Aber wie sind Sie ausgerechnet auf Jaqueline gekommen?“
„Nun, ich habe eine schreckliche Vorliebe für schöne Klänge. Und auf dem Weg zum Bahnhof hörte ich von draußen eine Stimme, die rief: ‚Jaqueline, du bist eine blöde Kuh!’. Ich weiß nicht, was blöd bedeutet, doch es klingt genau so schön wie ‚grüüün“. Und Jaqueline erst ... der Name ist ein Juwel. So hab ich mich, als Sie so unvermittelt nach meinem Namen fragten ...“
„Mir gefällt Jaqueline auch sehr gut, und ich werde mir den anderen Namen gar nicht merken. Für mich werden Sie immer Jaqueline sein.“
„Oh danke, meine Liebe. Sie sind nicht nur klug, sondern haben auch ein gutes Herz.“
An dieser Stelle fand die Unterhaltung zwischen Elsa und K139-5 ein abruptes Ende, denn der Schlachthof war erreicht, und es blieb nicht einmal Zeit, sich vernünftig zu verabschieden.
***
So könnte diese Geschichte enden, doch die Alternative gefällt mir besser. Deshalb vergessen wir den letzten Abschnitt und machen an der Stelle mit dem guten Herzen weiter.
Ohrenbetäubender Lärm ... quietschende Bremsen ... ein Wagen springt aus dem Gleis, fällt um ... Holzwände splittern, dass die Fetzen fliegen.
“Sind Sie verletzt, Jaqueline?“
„Ich denke nicht. Was ist passiert?“
„Ich glaube, das war ein Gewitter. Da knallt es auch immer so laut.“
„Es ist gar nicht mehr eng hier, Elsa. Und da, schau mal, eine komische blaue Decke über uns.“
„Ach Jaqueline, das ist der Himmel. Wir sind im Freien. Da kenne ich mich aus. Komm, lass uns von hier verschwinden. Diese Enge will ich nicht wieder ertragen, und Durst hab ich auch.“
„Aber wo ist denn hier die Tränke? Es gibt doch gar keine Wände, an denen sie festgemacht sein könnte. Ich habe Angst, Elsa.“
„Hier gibt es bestimmt Bäche und Seen. Nur nicht bange sein, wir werden nicht verdursten. Und Hunger brauchen wir auch nicht zu leiden, da drüben gibt es saftiges Gras.“
„Gras? ... Oh, das ist ja ... grüüüün! Wie ich diese Farbe liebe! Und das kann man essen? Schmeckt das gut?“
„Und wie! Komm, bleib nur dicht bei mir, wir galoppieren erst mal ein Stückchen, damit wir von diesem blöden Waggon wegkommen.“
„Au ja, galoppieren! ... Was ist das?“
Drei Monate später wurden Jaqueline und Elsa aufgegriffen, doch da die Medien sie zum Star mit allem dazugehörigen Rummel machten, wurden sie nicht ihrer vorgesehenen Bestimmung zugeführt, sondern erhielten Gnadenbrot in einem Aiderbichl Hof.
Wenn sie nicht inzwischen gestorben sind, könnt ihr sie dort besuchen. Grüßt sie recht nett von mir, denn sie liegen mir am Herzen.
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Es gibt Reisen, die dauern nur kurze Zeit, wie die von Jaqueline und Elsa. Andere Reisen gehen über Jahre und Monate, wie etwa kürzlich meine Nachbarn eine Weltreisen unternommen haben. Doch dann gibt es wiederum Reisen, die dauern ein ganzes Leben lang. Und immer wieder muss man bereit sein, erneut aufzubrechen. Wenn man denn den Mut dazu hat. Frau Troldhaugen in der nächsten Episode hatte ihn.
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Aufholjagd
„Ich danke Ihnen sehr, Frau Troldhaugen, dass sie an unserer Studie über Sex im Alter teilnehmen. Erzählen Sie doch ein wenig über sich.“
„Ich freue mich, endlich mit jemandem darüber reden zu können. Ich heiße Sylvia und bin kürzlich 77 geworden. Aufgewachsen bin ich in Mannheim, lebe aber seit über vierzig Jahren in Wiesbaden. Zum Glück kann ich mich noch selbst versorgen, und solange das einigermaßen geht, werde ich hier in dieser kleinen Wohnung bleiben.“
„Haben Sie Angehörige?“
„Ja, meine Tochter wohnt in Mainz und schaut einmal in der Woche nach mir. Mein Mann Klaus, Gott hab ihn selig, ist vor fünfzehn Jahren gestorben.“
„War die Zeit nach seinem Tod schwer für Sie?“
„Ja sehr, zumindest in der ersten Zeit. Ich hab mich verkrochen und wollte niemand um mich haben.“
„Das verstehe ich. Doch wie sie mir in einem Vorgespräch verraten haben, begann irgendwann eine neue Zeit für Sie.“
Die Augen der deutlich jünger als 77 wirkenden Frau mit den rot gefärbten Haaren blitzen auf, als sie ihre Zigarette abstreift und mich fixiert.
„Das war vier Jahre nach Klaus’ Tod. Alles fing damit an, dass meine Freundin Adele mich dazu überredete, mit ihr in Urlaub zu fahren. Nach Ischia, wo ich noch nie gewesen war. Der letzte Italienbesuch lag mindestens 30 Jahre zurück, denn Klaus hatte was gegen Italiener. Das sind Gauner, pflegte er zu sagen, und Gockel.“
„Was passierte auf Ischia?“
„Da war ein kleiner Italiener. So um die 50 herum. Der setzte sich immer in unsere Nähe und beobachtete uns. Sogar Adele fiel es auf, und die merkt normalerweise überhaupt nichts. Dabei hatte er es nur auf mich abgesehen, wie er mir später erzählte.“
„Er hat Sie angemacht?“
„Ja, so kann man es sagen. Eines Abends an der Bar, als Adele bereits zu Bett war, setzte er sich neben mich. In gebrochenem Deutsch bändelte er mit mir an, und er war mir auf Anhieb so sympathisch, dass wir uns bis in die Morgenstunden unterhielten. Wir verabredeten uns für den nächsten Abend, und am letzten Tag vor der Abreise lag ich mit ihm im Bett.“
„Das war außergewöhnlich für Sie?“
„Und wie?! Mit Klaus lief in den letzten Jahren überhaupt nichts mehr, und in all den Jahren zuvor gab es Sex nur auf Sparflamme. Ich wusste überhaupt nicht, wie schön das sein konnte. Diese Nacht mit Luigi war eine Offenbarung. Er ließ sich trotz meiner heftigen Einwände nicht davon abhalten, mich mit dem Mund zu verwöhnen, und mir ist dabei etwas passiert, das ich nie für möglich gehalten hätte.“
„Was denn?“
„Ich hatte den ersten Orgasmus meines Lebens. Die Gefühle überrollten mich so vollständig, dass ich laut zu schreien anfing, und Luigi erschrocken aufhören wollte. Und ich muss gestehen, dass ich das nicht wollte, um keinen Preis. Also drückte ich seinen Kopf wieder zwischen meine Beine und hieß ihn weitermachen.“
„Sie hatten also mit fast 70 Jahren den ersten Orgasmus ihres Lebens?“
„Ja, stellen Sie sich das mal vor. Und noch in derselben Nacht habe ich beschlossen, dass ich den Rest meiner Zeit nutzen wollte. Gut gerechnet sieben Achtel meines Lebens hatte ich verbracht, ohne zu wissen, dass es den Himmel auf Erden gibt. Und jetzt, wo ich Bescheid wusste, wollte ich ihn haben. So oft es ging.“
„Wie haben Sie das angestellt?“
„Es war alles ganz leicht. Wenn man nur offen ist und auf die Männer zugeht. Luigi war der Erste und ich bin ihm bis heute dankbar, dass er mir die Augen geöffnet hat.
Und ich muss zugeben“, die alte Dame errötet und fährt dann fort, „je jünger die Männer sind, desto mehr Spaß macht es.“
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Frau Troldhaugen hat wieder einen Sinn in ihrem Leben gefunden, freuen wir uns darüber mit ihr. Denn bei ihrem Alter kann man vermuten, dass sie bald zur letzten Reise aufbrechen muss. Diese Reise müssen wir alle antreten, das ist die Gerechtigkeit der Natur. Doch nicht immer sind wir darauf vorbereitet. Mancher tritt sie ganz unversehens an.
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Das unfreiwillige Geschenk
Es wäre Albert lächerlich vorgekommen, sich im Auto anzuschnallen. Diese Regeln galten für Spießer und Angsthasen, nicht für ihn. Sein Benz war das sicherste Auto, das es gab, zudem saß er selbst hinter dem Steuer. Eine absurde Vorstellung also, die Gurte anzulegen. Diese Schwäche hätte er sich nie verziehen.
Erst als er durch die Frontscheibe seines heißgeliebten Benz schoss, das Blut ihm übers Gesicht lief und ihm die Sicht nahm, kam so etwas wie Bedauern in ihm auf. Doch nun war es eindeutig zu spät für ein Umdenken. Zum Glück hielten sich die Schmerzen in Grenzen.
Es war geradezu eine Beleidigung, dass die Frau in dem mickrigen, uralten, buntbemalten VW-Käfer, mit dem er zusammengestoßen war, offensichtlich unverletzt in ihrem Auto saß. Allzu viel sah er zwar nicht, wegen des vermaledeiten Blutes vor seinen Augen, doch eine Bewegung zwischen den beiden demolierten Wagen erregte seine Aufmerksamkeit.
Zwei schwarzgekleidete Herren stritten heftig und lautstark miteinander. Wenn er auch infolge der eingeschränkten Sicht nur Schemen wahrnahm, so konnte er dennoch ausgezeichnet verstehen, was die beiden sich gegenseitig an den Kopf warfen.
„Das ist meiner!“
„Auf gar keinen Fall, er gehört mir, und jetzt verpiss dich.“
„Er saß in meinem Auto, also ist es meiner. Deine ordinären Sprüche kannst du dir sparen.“
„Pah, du weißt genau, dass das Schwachsinn ist. Ich habe die Tussi in meinem Wagen abgelenkt, sonst wäre sie niemals in dich reingerauscht, also steht er mir zu.“
„Unsinn, wenn ich nicht dafür gesorgt hätte, dass seine Airbags versagen, dann hätte er noch ein langes Leben vor sich. Zudem warte ich schon lange auf diesen Moment. Der Idiot schnallt sich grundsätzlich nicht an, das ist doch fast schon ein Versprechen.“
Abgrundtiefes Grauen befiel Albert, als ihm endlich klar wurde, um was der Streit ging. Über die Identität der beiden Streithähne konnte er sich ebenfalls nicht länger belügen, denn im Eifer der Auseinandersetzung begannen sie, mit langen, gefährlich aussehenden Sensen aufeinander loszugehen.
Langsam, ohne die beiden aus den Augen zu lassen, kroch er rückwärts vom Ort des Unfalls weg. Vielleicht gab es noch eine Chance für ihn, wenn es ihm gelang, rechtzeitig und ohne gesehen zu werden, von hier zu verschwinden.
Plötzlich spürte er einen ungeheuren Schlag gegen seinen Rücken, ein ohrenbetäubender Lärm machte ihn fast taub, gewaltsam wurde er in die Luft gerissen und landete zwanzig Meter weiter im Straßengraben. Verdammt, den heranrasenden Wagen hatte er nicht registriert, weil er allzu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war.
Als der bleierne Schmerz langsam nachließ, beugte sich ein in Schwarz gekleideter Mann über ihn. Die Überraschung, nun noch einen dritten wie einen Schiedsrichter gekleideten Mann vor sich zu sehen, war Albert ins blutige Gesicht geschrieben.
„Lass die beiden da drüben sich ruhig streiten. Ich finde, man kann den sportlichen Ehrgeiz auch übertreiben, auf einen mehr oder weniger kommt es doch nicht an. Es ist ja schon fast peinlich, wie die sich aufführen, oder? Inzwischen kannst du gerne mit mir kommen, denn mein Wagen hat dir den Rest gegeben.“
„Wie, bin ich jetzt ... tot?“
„Viel fehlt nicht mehr, mein Lieber.“
„Bist du denn der Tod?“
„Ja, einer von ihnen.“
„Ich dachte immer, es gäbe nur einen einzigen.“
„Ihr Menschen seid doch zu komisch. Ihr kennt den Spruch: Der Tod fährt immer mit. Und doch scheint euch das nichts zu sagen.
Na, dir kann das egal sein, denn dich nehme ich jetzt mit. Solche Zufallsgeschenke wie dich kann man nicht einfach ignorieren, das wäre eine ausgemachte Dummheit. Das verstehst du doch, oder?“
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Wie gerne würde mancher dem Tod von der Schippe springen. Doch wie soll man das anfangen? Was hat man ihm zu bieten, um ihn umzustimmen? Da gibt es keine Rücktrittsversicherung, welche die Kosten übernimmt. Und doch ist es nicht ganz unmöglich, denn … man kann einfach Glück haben.
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Glück gehabt
Ein äußerst seltsamer Kerl, der da neben mir Platz nahm. Schwarz gekleidet von Kopf bis Fuß, einen merkwürdigen Geruch um sich verbreitend, düster und fremd.
„Darf ich?“, fragte er überflüssigerweise.
„Natürlich, wenn das ihr Platz ist.“
„Der Platz neben Ihnen ist genau der richtige.“ Sein Grinsen war um eine Spur zu breit und ließ mir eher Schauder über den Rücken laufen, als dass es mich dazu ermunterte, zurückzulächeln.
„Na, was haben sie in Leipzig vor?“, wollte der Fremde wissen.
„Ich treffe mich mit meiner Frau, und dann gehen wir die Baustelle besichtigen, die wir gekauft haben“, klärte ich ihn auf, obwohl ich seine Frage zudringlich fand.
„Baustellen sind gefährliche Orte. Da passieren die ulkigsten Unfälle.“
Ulkig? Ich hatte mich wohl verhört.
„Nicht, wenn man aufpasst“, versuchte ich das Gespräch zu beenden.
„Das hilft nicht immer. Wenn Gottes weiser Ratschluss es anders vorsieht, nützt auch die größte Vorsicht nichts.“
Ah, ein Pfarrer. Jetzt wurde mir einiges klarer.
Unser Gespräch wurde durch eine Stewardess unterbrochen, und da mein Nebenmann danach in Schweigen verfiel, schloss ich die Augen und döste vor mich hin.
Erst kurz vor der Landung nahm er das Gespräch wieder auf.
„Erst kürzlich habe ich gelesen, dass es sehr gefährlich ist, auf Baustellen unter Leitern hindurchzugehen. Also sehen Sie sich vor.“
„Machen Sie sich keine Sorgen, mir hat noch keine Leiter etwas zuleide getan“, klärte ich ihn auf.
„Und doch kann schon das erste Mal tödlich enden.“ Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter.
„Sehr geehrte Damen und Herren“, unterbrach das Bordmikrofon unser Gespräch, „leider mussten wir nach Berlin ausweichen, weil ein Fluglotse in Leipzig einen kleinen Fehler begangen hat. Selbstverständlich werden Sie ...“
Als ich mich auf den Weg zum Bahnhof machte, um den ICE nach Leipzig zu nehmen, ging mir der merkwürdige Sitznachbar aus dem Flugzeug nicht mehr aus dem Sinn. Was sollte nur das Gerede von Leitern, unter denen man nicht durchgehen darf. Und die Kälte, die der Typ verströmt hatte! Eisig.
Wie er wohl auf die Situation mit der unplanmäßigen Landung in Berlin reagierte?
Da sah ich ihn, an einem öffentlichen Telefon. Und ich muss zugeben, die Neugierde war so groß, dass ich mich näher schlich und das Gespräch belauschte.
„Und ich dachte immer, Chef, du hast alles im Griff. Wie konnte es da passieren, dass wir in Berlin statt Leipzig landen?“
...
„Und was soll ich jetzt machen? Die Vorbereitungen in Leipzig waren jedenfalls für die Katz. Und die Sense hab ich auch nicht dabei, die ist ebenfalls in Leipzig.“
...
„O.K. dann hat er eben Glück gehabt. Soll er leben und wir warten noch ein paar Jährchen. Wenn der wüsste, was für ein Glück er gehabt hat. Und ich hab mich schon so auf die Sache mit der Leiter gefreut. Aber so ist das Leben ...“
Sein hässliches Kichern ging mir durch Mark und Bein und es lief mir eiskalt den Rücken herunter. Sollte ER das wirklich gewesen sein? Als ich wieder hinübersah, war er verschwunden. Gott sei Dank! Oder doch lieber dem Fluglotsen?
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Entkommen!
Manch einer will das aber gar nicht. Wenn es genug ist, ist es genug. Dann wartet man auf ihn, den Erlöser. Und tritt gern die letzte Reise an.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
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Der Tod und das Mädchen
Das Mädchen:
Vorüber! Ach vorüber!
Geh, wilder Knochenmann!
Ich bin noch jung, geh Lieber!
Und rühre mich nicht an.
Der Tod:
Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
Bin Freund und komme nicht zu strafen.
Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
Sollst sanft in meinen Armen schlafen!
Matthias Claudius
„Bist du es?“
„Ja, ich bin es, mein lieber Theodor.“
„Endlich, ich warte schon so lange auf dich.“
„Ich weiß, ich weiß. Doch früher konnte ich nicht kommen. Die Zeit war noch nicht reif. - Woran hast du mich erkannt?“
„Du hast dieses Schubert-Lied gesummt, das mit dir und dem Mädchen. Ich habe es so oft gehört. Und das Quartett gehört zu meinen Lieblingsstücken. Jedes Mal, wenn ich die Cellostimme gespielt habe, bekam ich eine Gänsehaut. Vor allem im zweiten Satz. Es ist eine zeitlose Musik.“
„Ja, das Lied gefällt mir. Es schmeichelt meinem Ego. Ich habe mich bei beiden persönlich bedankt. Bei Matthias und Franz.“
„Auch ich finde den Text ebenso schön wie die Musik. Und du ... bist darin ein Freund und gar nicht wild.“
„Manchmal und für manche bin ich so. Doch reden wir nicht von mir. Sag mir lieber, wie es dir geht?“
„Ich bin müde.“
„Das verstehe ich. Das Leben der Menschen ist nicht leicht.“
„Oh, es gab in meinem Leben auch Zeiten voller Leichtigkeit. Ich hatte eine herrliche Kindheit. Meine Mutter war die schönste Frau der Welt, und ich wollte sie unbedingt heiraten.“
Ein Lächeln legte sich auf Theodors Gesicht, und er strahlte eine Ruhe aus, wie seit Tagen nicht mehr. Sohn Siegfried und Tochter Anneliese, die an seinem Bett saßen, sahen es, und die Tränen stiegen ihnen in die Augen.
„Weißt du, als ich sieben war, ist Mama fast gestorben. Sie lag nach dem schweren Autounfall im Krankenhaus, und es ging um Leben und Tod. Oh, wie habe ich dich damals gehasst! Mit aller Kraft, die ich siebenjähriger Dreikäsehoch aufbringen konnte. Alles hätte ich gegeben, um dich von ihr fernzuhalten, du warst mein schlimmster Feind. Doch jetzt, 80 Jahre später, hab ich dich sehnlich erwartet. Ich brauche dich - als Freund.“
„Ich werde mich um dich kümmern, hab keine Angst.“
„Ich habe keine Angst. Nur müde bin ich und sehne mich nach Frieden. Und ich freue mich auf Hanna.“
„Sie wird da sein. Ich werde dich zu ihr bringen.“
„Seit du sie geholt hast, war das Leben nur noch ein einziges, großes Warten. Fünf endlos lange Jahre! Sie sind mir wie eine Ewigkeit vorgekommen.“
„Zeit ist Illusion, Theodor. Aus meiner Sicht geschieht alles gleichzeitig.“
„Dann siehst du Hanna jetzt, in diesem Moment?“
„Ja.“
„Ist sie immer noch so schön, wie damals?“
„Oh ja, sie sieht aus wie eine Braut.“
Wieder überzog ein feines Lächeln das Gesicht des Sterbenden. Seine Kinder versuchten, Kontakt zu ihm aufzunehmen, doch er reagierte nicht auf ihre Bemühungen. Zu weit hatte er sich bereits aus der Welt der Lebenden zurückgezogen.
„Weißt du, welches der schönste Augenblick in meinem Leben war?“
„Nein, erzähl es mir, wir haben noch etwas Zeit.“
„Als Anneliese und Siegfried zur Welt kamen. Ich war dabei, hielt Hannas Hand und half ihr pressen. Mein Gott, niemals wieder habe ich sie und diese winzigen Wesen, die gerade geboren wurden, so geliebt. Ich war durchdrungen von Liebe, hätte die ganze Welt umarmen mögen, und die Frage nach dem Sinn des Lebens stellte sich nicht mehr. Alles stimmte und passte, wie es war. Kein Zweifel, keine Angst!“
„Die Liebe, mein Freund, ist das Wesen aller Dinge. Ohne sie ist alles Schaum.“
„Warum vergisst man es nur im Alltag immer wieder?“
„Ihr seid eben Menschen, keine Heiligen.“
„Oh ja, da hast du recht. An mir war nichts Heiliges. Ich war Mensch, durch und durch. Ein Sünder, trotz aller guten Vorsätze. – Doch erzähl, wie ist es dort, wo du mich hinbringst?“
„Das kann ich dir nicht sagen. Es ist für jeden anders.“
„Aber du bist sicher, dass ich Hanna dort wiedersehe?“
„Ja, das steht fest.“
Die Kinder staunten über das grenzenlose Glück, das sich im Gesicht ihres Vaters zeigte. Mit einer liebevollen Geste strich Anneliese durch sein schütteres, graues Haar und schluchzte laut auf.
„Können wir jetzt gehen? Ich sehne mich so nach ihr. Dieser gebrechliche Körper ist mir nur noch eine Last. Wenn du mich von ihm befreist, werde ich dir ewig dankbar sein.“
„Du bist immer noch mit einem gesunden Humor gesegnet, Theodor. Sei beruhigt, bald ist es so weit, die Uhr ist fast abgelaufen.“
„Wenn ich gewusst hätte, wie du bist, wäre ich dir entgegengegangen. Du bist so ... zärtlich.“
„Das kommt nicht allen so vor, mein Lieber. Viele suchen mich und sehen in mir den Befreier, andere dagegen wollen mir unbedingt entkommen. Ich habe Verständnis für beide.“
„Es ist nicht erstrebenswert, besonders alt zu werden. Nicht, wenn man alleine zurückgelassen wird. Der Abschied von Hanna war bitter und schwer, obwohl er für sie eine Erlösung war. Dafür hätte ich dir eigentlich dankbar sein müssen, doch dazu war ich nicht fähig.“
„Lass gut sein, Theodor, und jetzt komm, deine Zeit ist um.“
Es dauerte eine Weile, bis Anneliese und Siegfried das Ausbleiben der flachen Atmung bemerkten. Mit Tränen in den Augen hielten sie sich an den Händen und schwiegen angesichts des Offensichtlichen. Die Trauer drückte sie nieder, und nur das Bewusstsein, dass Vaters glückliches Gesicht von einem leichten Tod sprach, linderte ihre Verzweiflung. Er war sanft entschlafen ... ein Glück, das man sich nicht verdienen kann.
Kommentare
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@Leichtgewicht: Du kennst die meisten meiner Geschichten ja bereits. Ein paar kleinere habe ich noch in der Hinterhand, die werden dann in einem halben Jahr oder so hier erscheinen. Schön auch, dass du Herrn von Santhrop magst.
@Mondstern70: Und ein Küsschen zurück. Oder ein paar. :-) Uns verbindet ja vieles, und ich freue mich, dass dir diese Story gefällt.
@Musicus11de: Dein Nickname passt zu deinem Kommentar. Danke dafür.
@tom91207: Danke für deine gute Meinung.
@EviAngel: Roald Dahl ist mal so was von geschmeichelt. :-)
@immafo: Danke für das Riesenkompliment
@Chevalier: freut mich, dass es dir gefallen hat
@petri1x: Das freut mich sehr. Danke für den Kommentar.
@Andrea: Du weißt, wie sehr dein Kommentar mich freut, liebe Freundin.«
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Und den Herrn von Santhrop mag ich ja eh.
Viele Grüße
vom Leichtgewicht (sanft lächelnd)«
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3-mal Ten Points und ein Küsschen als Zugabe
LG Mondstern«
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Mir fehlen mir schlicht die Worte.
Ich sage einfach nur ... Danke!«
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Toll auch, dass endlich einmal ein Einleser seine Möglichkeiten ausschöpft.
Gruß Evi«
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Wie gesagt: großes Kino, dem ich noch einmal 30 Putschen hinzufügen darf.
LG Andrea«
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Mit Erotik haben diese Kurzgeschichten schon einmal gar nichts zu tun (allerhöchstens rudimentär noch die "Aufholjagd"), aber die vorangestellten und mittendrin immer wieder eingestreuten Kommentare des Verfassers, die nebenbei bemerkt in ihrer selbstgefälligen Art als vorgebliche Weisheiten zu den großen und kleinen Themen des Lebens nachgerade unerträglich sind, stellen das Ganze eindeutig in literarische Zusammenhänge und Bezüge zu Hesse, Claudius und Schubert her (denen angesichts der abgeschmackten Textinhalte ein philisterhafter Beigeschmack anhaftet). Somit ist der vorliegende Text also auch nur an literarischen Maßstäben zu messen - und erweist sich dementsprechend natürlich als grottenschlechtes und peinliches Machwerk!
Der Höhepunkt der Peinlichkeit ist wahrscheinlich bereits mit "Herr Santhrop macht Urlaub" erreicht, welcher Text dem Verfasser offenkundig nur dazu dient, sich selbst als moralischen Bessermenschen zu zeichnen, der im Gegensatz zu seinem Protagonisten natürlich alle Menschen liebt (was bekanntlich auch schon Erich Mielke von sich sagte); nebenbei stellt der Verfasser seine völlige Unkenntnis der Philosophie Schopenhauers unter Beweis, der ihm lediglich als Symbolfigur eines "Menschenfeinds" dient, der er natürlich überhaupt nicht sei, wie uns seine "liebe Freundin" Andrea in ihrer lächerlichen Lobhudelei oben unterrichtet.
Nur blöd, wenn ein angeblich so toller Menschenfreund wie der Verfasser in anderen Menschen, die ihm - warum auch immer - nicht passen, nichts weiter als "Unrat" sieht (s. sein Kommentar zu "Der Pianist und das Mädchen")! Aber diese selbstgerechte Verlogenheit paßt hervorragend zum Verfasser dieses unsäglichen Machwerks!
Kommentare zu den albernen Menschenkühen, dem guten Sünder auf dem Totenbett usw. erspare ich mir und dem geneigten Leser ...«