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Kommentare: 4 | Lesungen: 1287 | Bewertung: 8.80 | Kategorie: Sonstiges | veröffentlicht: 11.11.2016

Renate Berlin (Fortsetzung)

von

Trotz der Kopflampe mussten sich meine Augen an das andere Licht hier erst einmal gewöhnen.


Erfahrungsgemäß soll man darauf immer Sorgfalt und Zeit verwenden und ich tat es auch diesmal.


Augen mal länger geschlossen halten, dann wieder auf…


Hier vorne konnte ja noch wirklich nichts passieren - hier war ausgeräuchert und es stank bestialisch nach Socke…alles eventuelle Getier war vertrieben; hinaus… oder - - - oder aber in rückwärtige Teile dieses 'Etablissements' geflüchtet?


Es roch natürlich je weiter ich hineinglitt desto mehr beruhigend, wenn auch bestialisch, nach dem Sockenrauch - Pesmy oder Georg? Nein, diesmal machten sie es mir wirklich schwer!


Es lief natürlich wieder stillschweigend unsere übliche Wette: Ob ich es wohl schaffte, anhand des Brandgeruchs den Besitzer der alten Socke herauszuriechen. Meistens tippte ich richtig...

Naja. Ein etwas absonderliches Völkchen sind wir Archäologen ja schon!


Ich geb's ja zu!!

Ich tippte auf Pesmy und sagte das halblaut so hinter mich über die Schulter.


Die beiden Herren gackerten hinter mir und schlugen sich auf Schenkel und Schultern, wie ich hörte.


"...big find...really big!..." und ähnliche, erwartungsvolle Rufe waren in dem hinter mir aufbrausenden Gejohle zu hören; zu allem Überfluss gab Emre im Chor mit anderen noch ein "Bismillah" nach dem anderen dazu - ALLE wussten natürlich mittlerweile von diesem unseren 'Ritual'.


Nämlich, dass immer dann, wenn ich mich irrte mit der Socke…..dass dann ein wirklich bedeutenderer Fund bevorstand...

Wie gesagt, ein besonderes Völkchen.

Man möge es uns verzeihen, diese kleinen Aberglaubereien und Neckereien, selbst wenn es um eventuelle Gräber oder ähnlich pietätlastiges geht - denn es ist oft wirklich kein Spaß und sogar gefährlich, in solchen Gelassen herumzukriechen.


Heute zum Beispiel beschlich mich - draußen waren sie nun endlich ruhig und warteten gespannt - das unheimliche Gefühl, dass es hier nicht geheuer war. Sehr langsam hatte ich mich vorgeschoben und ich war sicher erst so weit hier drin, dass meine Füße gerade so nicht mehr aus dem Schacht herausragten. Noch spürte ich Georgs Hand an meinen Füßen - -


wurde ich denn nun ganz verrückt??!!


Ging ja doch gar nicht!!


Sicher nur Einbildung!


Aber ein beruhigendes, schönes, gutes Gefühl war es doch.

Das dicke Wildleder unter meinen Fingerspitzen und Handflächen - diese Handschuhe hatte ich ganz neu, sie waren noch ganz jungfräulich - rutschte nicht ab auf der Sandsteinunterlage und so konnte ich mich gut vortasten und nachziehen. Die Reißverschlusszähnchen und die Knöpfe der Jacke kratzten am Boden und die Gürtelschnalle auch. Der Gang war derart eng, dass ich kaum mit meinem linken Arm nach unten langen konnte, um die Jacke über die Schnalle zu schieben!


Ganz eng hier!


Das Streulicht von hinten war jetzt völlig verschwunden; durch meinen Körper abgedeckt.


Nun war ich etwa auf der Hälfte der sieben Meter; die die Stange vorhin hier hineinsondiert hatte. Dort vorne war der ruß-schwarze Fleck, den der kokelnde Socken hinterlassen hatte und eine schmale, schwarze Spur führte von dort auf mich zu; vom Herausziehen dieser Räuchervorrichtung.

An der rechten Ecke des Schachtes, unten, waren im Licht der Helmlampe die kleinen, an den Enden weidenblattartig ausgefächerten Fühlorgane irgendeines Insektes zu sehen.


Sie bewegten sich.


Zwei Minifederchen...

Igitt!?!


Warum mache ich das hier überhaupt??

Weil es nichts Interessanteres für mich gibt!

Hm.

Aber nun hatte ich wirklich das bestimmte Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war!

Leise meldete sich die Angst - in meinem Job soll man die auch wirklich nicht ignorieren oder zu verdrängen versuchen.


Aber ich zog mich erst einmal dennoch weiter und holte den Spiegel aus der Brusttasche, streckte den Arm aus.


Es gehört etwas Übung dazu, das Lampenlicht vom Kopf auf den Spiegel auszurichten und dann damit um die Ecken zu gucken und sehr beklommen war mir nun wirklich auch - egal, es musste gemacht werden!


Hier ging der Schacht nach rechts um die Ecke, war jetzt ganz deutlich zu sehen - vorziehen - Spiegel hin - ausrichten...

Ich weiß nicht, was zuerst kam:


Mein Angst-Schmerz in meinen Beinen oder das Realisieren, dass da ein Kribbelkrabbeln um die Ecke dort war, dass mir das Blut gefrieren wollte - mehr noch, hier SCHLÄNGELTE sich auch was herum!!!

Noch aber ging hier nichts auf mich los bis auf die vordersten Kakerlaken, aber die waren mir erstmal egal. Machten ja weiter keinen Schaden. Also nur ja den Mund fest zumachen!


Es war nun vielmehr wichtig, die Länge dieses rechten Schenkels des Schachtes abzuschätzen und dergleichen. Also ignorierte ich so gut es ging den immer stärker werdenden Schmerz in meinen Beinen und konzentrierte mich aufs Wesentliche.


Etwa fünf Meter. Gleiche Breite und Höhe wie hier, bei mir. Trocken, soweit sichtbar. Ganz hinten nicht mehr sauber gemauert und glattwandig, sondern wie eingebrochen. War da nicht auch ein Lichtschimmer?


Ich holte langsam und tief Luft um die Spannung niederzukämpfen, dann schaltete ich die Helmlampe kurz aus, kniff die Augen drei Sekunden zusammen, um gleich besser sehen zu können und riss sie wieder auf – stimmt! Diffuses Licht in der Nähe des 'Daches' des Schachtes, ganz dahinten.


Ein Pünktchen.


Schnell wieder die Lampe an!!


Die Schmerzen in den Beinen wurden unerträglich und ich bemerkte, dass ich bereits vor Angst zitterte.

"Raus!!"


rief ich vorsichtig-halblaut und in meinem Spiegel sah ich nun einige stärkere Bewegung in dem allgemeinen Gewimmel.


Zwar weiß ich, dass Schlangen wenn überhaupt, dann anders hören und Insekten meist gar nichts hören...aber dennoch war eine Reaktion zu sehen in meinem Spiegel.


Sicher hatten die Viecher ertastet, gefühlt, dass da ein Schalleffekt war und es kam Bewegung in die Sache!


Oder es lag am An und Aus des Lichts?

Egal!

"Raus!!!!!!!!"


schrie ich nun - ich glaube, ich habe noch niemals so laut geschrieen - meine Beine verbrannten in dem psychisch-imaginären Schmerz, der bei Angst immer da war und als ich endlich, endlich Zug auf dem Sicherungsseil fühlte und im Nu wieder ins Sonnenlicht blinzelte, krabbelte ich so schnell ich konnte in dem Graben erst einmal weg von dem 'Loch'.


Zwischen den Beinen der Umstehenden hatten sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt und ich erblickte behaarte, braune, staubige Waden, die mir erschreckt Platz machten...

Pesmy und Georg waren da und nahmen mich hoch. Mit zitternden Fingern löste ich den Halsriemen des Helmes, der mich am Atmen hinderte und mein darunter gepacktes Haar fiel mir ums Gesicht.


'Reiß dich zusammen, Berlin!'


befahl ich mir, war aber sehr froh, dass ich mich irgendwo hier festhalten konnte und...

"Viecher?" fragte Georg laut in mein Gesicht und strich meine Haare zur Seite.


Mein überdeutlicher Blick reichte ihm wohl als Antwort; und auch Pesmy, der meine Finger noch immer an seinen Hals gekrallt ertrug, rief nun den Einheimischen zu: "Snakes! . . äähm…Yilan! Yilani!!" und machte eine verdeutlichende, schlängelnde Armbewegung in deren Richtung.


Da hoben sich dann die nackten Waden hüpfend in die Höhe und während die cooleren unter den Grabungshelfern – darunter Hassan – Decken vor das Loch hielten, stoben die anderen den Staub auf und suchten zwischen ihren Beinen umher…


Natürlich hatten Pesmy und Georg verstanden: Wenn ich mich SO anstellte, MUSSTE es sich um Schlangen handeln.


Sonst ertrage ich ja alles. Aber irgendeine Phobie hat wohl jeder Archäologe - - gerade die!!


Pesmy und Georg trugen mich aus dem Graben unter das Sonnensegel hinüber.


Pesmy entfernte sich mit dem alten Mann - Mustafa, tatsächlich einem Onkel von Emre - wieder Richtung Schacht.


Natürlich hatte ich mich ziemlich gleich wieder beruhigt. So ist eben der Job - schließlich kam so etwas immer wieder mal ähnlich vor.


Und es gibt ja auch eigentlich nichts Tolleres!!! Wer Abenteuer will, muss mit so was eben klarkommen. Trotz Phobie.

Eigentlich wunderte es mich im Nachhinein, dass ich ein derartiges Tohuwabohu verursacht hatte. Normalerweise stecke ich so was schneller weg und stelle mich nicht so an. Zumindest merken nur meine besten Bekannten und Freunde, DASS es mir überhaupt was ausmacht!

Ich war wohl etwas zarter besaitet seit gestern; das Erdbeben und noch so einiges waren mir eben nicht in den Kleidern hängen geblieben...

Irgendwie war mir meine Hysterie von eben ein wenig peinlich - nichtsdestotrotz genoss ich aber Georgs streichelnden Hände.


"’s isch ja älles guet!" raunte er immer wieder sanft, während er den Reißverschluss der Jacke öffnete und sie mir zusammen mit den Handschuhen auszog.


"Chascht du nicht doch etwas abgekriegcht vielleichcht??" fragte er besorgt und strich forschend an meinen nun unbekleideten Armen herum.


Ich schüttelte den Kopf und schmiegte mich kurz an ihn, dann war ich wieder ganz zu Atem gekommen.

"Es sind mindestens zwei Schlangen. Frag mich nicht, welche genau!! Das andere Getier ist wahrscheinlich vernachlässigbar.


Aber der Schacht ist voll davon; auf ganzer Länge. Vielleicht fünf Meter nach rechts - dann ist er wohl eingebrochen. Von Oben scheint etwas Licht hinein. Wo mag das herkommen?"

Georg klopfte und strich mir den Staub des Schnittgrabens von meinen Hosenbeinen.


Faszinierend fand ich das! Trotz allem, was eben passiert war - eigentlich gar...


ja, erregend!

Ich fragte mich noch kurz, was wohl in mich gefahren war!


"Sei mal nicht so grob!" gurrte ich leise und griff seine Hand, führte sie sanft an meinem Bein entlang.


Irritiert guckte er mich an.

"Du merkscht da doch nichchts, oddr?"

"Stimmt, aber sehr schön ist es doch!"


und ich führte seine große Hand an der Innenseite meiner dünnen Hühnerbeinchen hinauf bis in meinen Schritt...

Ich WOLLTE das jetzt so!!!


Und wenn es noch so unpassend war!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!


Wenigstens dieses eine Mal!!!


Wenn auch nur kurz...


Wie wenn es kein Morgen gäbe.


Aber HEUTE Abend!!!! nahm ich mir fest vor.


Und ich erinnerte mich an 'gefühlvollere' Zeiten dort unten, und wie das so war, damals...


nur war es JETZT seelisch vielleicht sogar ungleich erregender!

Mit hochrotem Kopf hob mich Georg aus seinem Schoß und setzte mich auf die Bank.


“Wo das Lichcht herkchommen mag?? Von der Sonne…von wo denn auch sonscht?!“


murmelte er und guckte etwas abwesend auf seine Hand.

"Ich...ich sollte wohl Pesmy berichchten und helfen gehen, oddr!"


stellte er betreten fest und entfernte sich.

Puh!!

Ich griff nach der Kühlbox mit dem Ayran und dem Wasser und holte mir ein ordentliches Quantum heraus; schenkte mir ein und trank in tiefen Zügen.


Nachdenklich fuhr ich mir mit meiner freien Hand an den Beinen entlang.


Richtig schön, wenn es Georg tat!


Aber jetzt, bei mir?


Ich kniff mich, schrubbte mit den Fingerknöcheln fest über den Hosenstoff - SO machte es mich eher wütend und ich - kniff weiter, dachte an meinen Traum letzte Nacht.


Wieder gehen?


Jaja. Sowas träumt jeder wie ich hie und da immer mal wieder.


So ein Schwachsinn!


Absolut unmöglich!!


Was für Groschenromane!!!

Aber es zeigte: Ich war wirklich im Ausnahmezustand.

Und mein Schweizer? Eigentlich unerreicht, wie er mit mir im Ausnahmezustand umgehen konnte…oder lag es an seinen Befindlichkeiten, dass er immer das Richtige machte?? Immerhin, das eben war ja wohl wieder…


…also, schon bemerkenswert, fand ich!


“…von der Sonne. Von wo denn auch sonscht!“

……

Eine Hand legte sich auf meine - Pesmy.


"Oh, Rena-Dear! Was tust du tun?"

Kopfschüttelnd nahm er meine Hand fest in seine und streichelte mir über die Fingerknöchel. Die waren vom Reißverschluss meiner Hose und den Nieten an den Seitennähten, von eben doch etwas aufgeschrappt.


Er sagte weiter nichts.


War einfach nur da und untersuchte die neuen Kratzer an meiner Hand.

"Hör mal, Pesmy...ich wollte ohnehin noch mal mit dir reden wegen gestern Abend, also heute Nacht..."

Er sah auf, sagte aber immer noch nichts. Sein Blick forderte auch nichts. Seine eigentlich wasserhellen Augen waren nur etwas sehr verdüstert.

"Ich...wir...also Georg und ich... - - …und du..." stotterte ich herum.


Dann gab ich es für den Moment auf.

"Du musst nicht tun das! Auch sprechen nicht." sagte er einfach und legte meine Hand in meinen Schoß.


Hatte er eben neben mir gehockt oder gestanden, so setzte er sich aber jetzt wenigstens hin; neben mich.


"Haben wir eben zwei Natters oder artgleiches aus den Loch jagen. Zwei ganzes Eimers voll mit Krabbel-bugs - Georg macht mit andere Mann gerade weiter. Recht gebiegtes, elastisches Flacheisen, damit wir können um Ecke hindurch. Dann wackeln und nächste Socke räuchern - und heraus kommen bugs!


Fangen alle ein…"

Ich schlug die Augen nieder und seufzte.

"Hör du zu!" sagte er bestimmt und berührte meinen Oberarm.


"Ist einfach, wirklich! Pah! Georg - ganz einfach! Du weißt doch auch sehr genau schon selb! Und ich...ICH..."


jetzt wurde er ziemlich dumpf und leise, näherte sein Gesicht aber meinem, "I...ich bin Freund von Georg und dir. Ich immer bin da. Ist nicht genug, ist aber gut so. Okay??


Rest ist mein Sache."

Ein leichtes Hüsteln war hinter uns zu hören, gerade als...


na, ich hatte wohl einen von Pesmys Stirn-Küssen wie gestern Nacht erwartet. Der hatte mir so gut gefallen...


Schnell nahm ich mich wieder in die Gewalt.


Denn das Hüsteln kam von einem in einen zerknitterten, hellgrauen Anzug gekleideten Menschen, der sich als "Tunc Jeremek; Anadolu Kazimaki Arkeologe Inspekter" vorstellte. Also als Inspekteur oder Aufseher der türkischen Altertümerbehörde, zuständig für Anatolien.

"Günaydin! Merhaba!" grüßte ich strahlend und mit verbindlicher Geste; innerlich aber resignierend-gottergeben und rückte mich auf meiner Bank zurecht.


Ämter bedeuten immer Unbill!


Schnell zupfelte ich mir das helle Halstuch um die Haare. Kopftuch ist in der Türkei eigentlich verfemt seit Mustafa Kemal Atatürk und in öffentlichen Behörden verboten, jedoch - - - ‚Anatolien ist groß und die Hohe Pforte ist weit!’ heißt es; in Abwandlung des ur-russischen Sprichwortes.


Dieser hellgraue Anzug da vor uns verkörperte schließlich die „Naturgewalten“ derer man als Archäologe in allen Ländern gewärtig sein muss – gerade vor allem in denen des „fruchtbaren Halbmondes“, also jener Gegend, in der die ersten Hochkulturen entstanden sind; grob gesagt ein Bogen von Ägypten hoch über die Levante, zum Euphrat und Tigris hinüber und wieder hinunter bis zum Indus…


In jenen Ländern ist heute Filz und Beamtenwillkür leider, leider oft eine Alltäglichkeit – die Türkei macht hier eine löbliche, wenn auch nicht ganz umfassende Ausnahme - dennoch, ein Beamter hier, das hatte nichts Gutes zu bedeuten…ich bin überhaupt eigentlich überzeugt davon, dass die Westeuropäer und vor allem wir Deutsche und Österreicher die Bürokratie erst von den ‚Türken-vor-Wien’ gelernt haben. Aber das Original ist immer perfekter als die Kopie! Der sogenannte „Amtsschimmel“ ist ganz sicher eigentlich ein echt türkischer Vollblut-Husàn!!


Pesmy brachte die schriftlichen Unterlagen, die behördlichen Genehmigungen, die ‚Digging Permits of the European Union…’ und alles sonst noch Notwendige aus dem Stahlschrank.


Viele wichtig aussehende Formulare mit noch wichtiger aussehenden Stempeln legte er dem Beamten vor.

Ziemlich eine halbe Stunde nervte uns der offensichtlich jeglichem Humor völlig abholde Herr Jeremek; Pesmys Türkisch- und Arabischkenntnisse kamen uns sehr zupass. Ich konnte ja nur einige Floskeln und was man als allerwichtigste Dinge so braucht.


Nur, verhonepipelt hat uns der Herr Beamte dennoch - als Pesmy nämlich mit halbem Blick zu mir hin ohne besondere Betonung bemerkte: "What a XXX!" hüstelte er mit einem vernichtenden Blick sehr unmissverständlich.


Konnte er also DOCH Englisch; und dabei hatte Pesmy noch nicht einmal ein allgemein gebräuchliches englisches Schimpfwort verwandt!

Nun wollte Herr Jeremek natürlich auch noch das Grabungsfeld selbst inspizieren.


Mit aufforderndem Blick erhob er sich und ging zunächst in Richtung des Zufahrtsweges. Da stand sein 'Sahin', ein türkischer Stufenheck-Mittelklassewagen; ein VW-Lizenzbau, gleich dem „Jetta“. Dort holte er eine Spiegelreflexkamera und kam wieder herbei. Pesmy war zu ihm getreten und Herr Jeremek guckte nun mit Glotzaugen auffordernd zu mir.


Ich hob entschuldigend die Hände und lächelte verbindlich - er aber missverstand dies und sah nun sehr gestreng und ungnädig in die Runde.


Pesmy versuchte zu erklären - allein, das interessierte Herrn Jeremek nicht. Er würdigte Pesmy keines weiteren Blickes sondern glotzte weiter sehr auffordernd zu mir hinüber.


Was sollte ich denn nun tun, Mensch!


Jetzt zog er gar drohend ein Notizbuch aus der Innentasche des Anzugjacketts und zückte wichtig einen Kugelschreiber.

Na, immer nur drauf! dachte ich...

Gut, dass gerade Emre herbei gerannt kam!


Pesmy hielt ihn auf, damit er einige klärende Worte bezüglich meiner Person an den Beamten richten solle, hörte dann aber Emre an.


Dann rief der Engländer zu mir hin:

"Dein Hügel hat ein noch zweite Loch!..."

Er kam schnell heran und nahm mich hoch. Wie so oft schon seit Jahren warf er mich einfach über seine Schulter und rannte.


Nun endlich schien Herr Jeremek zu kapieren, dass ich gerade eben wirklich nicht hatte einfach so mitkommen können!

Er hastete uns nach.

…………

Macrovipera lebetina

Pesmy trug mich, Herrn Jeremek hinter uns herrufend im Schlepptau, am Schnittgraben vorbei und hinauf auf den Hügel.


Also doch nicht der Schacht von eben. Sondern irgendetwas AUF dem Hügel oben - und dort hatten sich auch gerade alle Grabungshelfer versammelt.


Ich sah Georg mit der Alu-Klappleiter hantieren.

"Du hascht noch etwas Zeit. Geht's dir denn auch wirklichch ein wäänigch besser?"


Sein kurzer, aber sehr mitfühlender und tiefer Blick traf mich im Gedränge um uns herum.


Ich nickte und rupfte das ‚Kopftuch’ wieder hinunter auf meinen Hals…schließlich war DAS jetzt Arbeit.


Und nicht Herr Jeremek war wichtig!

Pesmy nötigte Mustafa herbei, damit dieser sich weiter um den wichtigtuerischen Herrn Jeremek kümmern sollte. Mustafa war hier der Älteste – offengestanden wirkte er sogar so alt und faltig, aber auch so erfahren, als habe er bereits Schliemanns Troja-Ausgrabung geleitet - also eine Respektsperson für alle Einheimischen einschließlich seines Neffen Emre, es war beileibe nicht seine erste Grabungskampagne und er war gerade genau der richtige Ansprechpartner für den Beamten.

Pesmy setzte mich behutsam am Rande des Schnittgrabens nahebei ab und ließ sich neben mir nieder.


"Ich für dich noch holen muss etwas?"

"Na, lass mal noch, wer weiß, was uns genau erwartet! Danach richten wir uns dann..."


Ich konnte gerade nicht weiterreden, obwohl ich lieber erstens über anderes und zweitens noch sehr viel zu sprechen gehabt hätte...


Eine seltsame Spannung war gerade zwischen uns, die mir das Reden verbot.

Ziellos sah ich vor mich hin, während die anderen die Leiter und alles andere richteten; der Graben war leer bis auf die Schuhschachteln, mit denen die ‚Bugs’ abtransportiert worden waren, und die rußigen Reste der Socken.


Herr Jeremek stand einige Meter abseits und beschattete seine Augen mit der Hand.


Es war nach dem Mittagsgebet; die Sonne stand fast senkrecht über uns.


Wäre das neue Loch nicht dazwischen gekommen, hielten wir jetzt normalerweise alle Siesta - naja, wir Archäologen wohl nicht gerade, aber wenigstens würden wir unter dem Sonnensegel die Kleinfunde diskutieren.


Diese neue Möglichkeit aber änderte das. Und, wie gesagt, bei solchen Löchern kam ich eben ins Spiel…’meine Männer’ drückten sich da immer erfolgreich drum herum…keiner wollte bei so was der Erste sein…eigentlich ja DOCH, aber uneigentlich?


Angst haben die aber natürlich NIE!!!

Es ist eben wie immer.


Wir Frauen müssen es richten…


Von Howard Carter ist schließlich ebenfalls bekannt geworden, dass er sich beim Betreten von Tut-ench-Amuns Grab buchstäblich in die Hose gemacht und die Tochter Lord Carnarvons vorgeschickt haben soll…!

Pesmy saß noch neben mir.


Noch wurde er nicht gebraucht und noch waren die Vorbereitungen mit der Leiter in vollem Gange.


Etwas Zeit.


Ich nahm mich zusammen und begann auf Englisch, auch gerade um Pesmy zu ermutigen, ebenfalls sprechen zu können wie im der Schnabel gewachsen war.


"Ich möchte gerne, dass du mit mir sprichst.


Jetzt.


Ich möchte gerne weiterleben können und glücklich sein wie jetzt. Das kann ich nicht, wenn ich merke, dass du auf der Strecke bleibst."

Pesmy sah mich nicht an.


Dennoch war unzweifelhaft all sein Dasein in meine Richtung gewandt.


Fast körperlich konnte ich das fühlen.

Er holte tief Luft.

"Es fällt sehr schwer. Aber wenn du das brauchst, Rena - na, hast sicher Recht, ich brauche das auch und es muss ja mal raus."


Er machte eine Pause.

"Rena - Dear ... ich liebe dich. Schon immer und auch schon vor eurem Unfall. Und danach noch mehr.


An einem Abend, damals in Portugal, kurz vor eurem Sturz von der Brücke ein paar Tage später, waren Georg und ich allein. Soweit ich weiß, warst du da mit Anna Lucia bei deren Eltern in der Nähe zuhause eingeladen...


Ich hatte mir vorgenommen, Georg von meinen Gefühlen zu erzählen. Schließlich ist er mein Freund und wozu hat man die! Ich AHNTE ja nicht, dass auch er…!


Ich druckste also ein wenig herum und auf einmal sagte ER dann enthusiastisch: 'Bevor du noch weiter herummachst und nichts herauskommt, verschiebe es auf später. Aber ICH habe dir was zu erzählen!'


Georgs Augen leuchteten, wie ich es noch nie gesehen habe. Und er erzählte...von DIR.


Hätte genau auch MEIN Vortrag sein können, der Mistkerl!!


Aber ich spürte, merkte, fühlte schon nach seinen ersten Sätzen genau, ganz genau, dass es das für mich nun war."

Pesmy machte eine Pause und ich bemerkte einen leisen Schmerz in seiner Stimme, der ich noch nachhorchte - - und in meinen Beinen.


Angst??


Wo sollte DIE denn jetzt herkommen?

Ich sah ihn an. Im Profil wirkte sein Gesicht noch schärfer geschnitten, noch englischer.


Wirklich hübsch eigentlich, sogar sehr! Mit leiser Besorgnis bemerkte ich den ordentlichen Sonnenbrand, der sich in den letzten Minuten bereits auf seinem Nasenrücken gebildet hatte - normalerweise achtete er auf so etwas sehr.


Neben ihm lag sein breitkrempiger Hut; den nahm ich und reichte ihm den. Er erwachte wie aus einem Traum, nahm den Hut dann aber und setzte ihn auf.


Ein kurzer, undefinierbarer Blick zu mir, dann fuhr er fort:


"Ich habe es zwar übers Herz gebracht, ihm sehr spät an diesem Abend doch noch zu erzählen, was ich für dich empfinde; ich habe aber gleich einleitend gesagt, dass ich zurückstehe.


Was ER nun wieder so nicht wollte und vehement widersprach.


Aber...naja, wie heißt es: Der liebe Gott und ich, wir haben uns geeinigt.


Ich WEISS, dass DU es sein sollst. Sagte ich ihm."

Er räusperte sich und fuhr sich über die Augen.


"Diese ganze Situation führte dazu, dass er genauso wie ich - wie soll ich sagen? Ja, dass wir eben gefühlsmäßig einen großen Bogen um dich machten in den darauf folgenden Tagen. DICH scheint das irritiert zu haben, dass wir so waren...und Georg und ich merkten das und ermutigten uns gegenseitig, nun die Initiative zu ergreifen.


Keiner tat es.


Dann war euer Unfall und du wolltest keine Besuche und warst fast ein Jahr außer Gefecht. Bis Aleppo.


Und da - Oh, Rena! Du warst NOCH wunderbarer und liebenswerter geworden!!"

Er verschluckte sich und hustete - und grinste dann, als er, zu mir hinsehend, mein perplexes Gesicht sah.

"Ich war immer dein Freund und will nun nie MEHR sein für dich. Jetzt, wo du und Georg..., also, JETZT schon gar nicht mehr.


Und das ist so richtig und reicht mir. Ich wäre glücklich, wenn ich euch beide auch weiter so eng als Freunde haben könnte.


Wenn du es willst...


So. Und das war’s."


schloss er einfach und sein Blick war ernst und gespannt, aber ganz tief hinten in diesen Augen war auch sehr deutlich, wie erleichtert er jetzt war, dass er mir das alles gesagt hatte.

Mein Blick verschwamm zwar etwas in meinen Tränen, aber ich ruckelte mich zu ihm hin, nahm sein Gesicht und küsste ihn wie er gestern Abend mich, herzlich und - ja, liebevoll - auf die Stirn.

Beide atmeten wir wie vorsichtig auf und sahen uns lange an.

"Lütfen...!!!"


rief laut und gestikulierend Emre vom Hügel herab. Es konnte wohl jetzt losgehen!

Pesmy nahm mich noch sanfter als sonst zu sich hoch. Seine doch eigentlich normalen Berührungen brannten wie Feuer durch mein T-Shirt! Er selber schien auch zu merken, dass gerade etwas Besonderes vor sich ging, zwinkerte mir aber verlegen-schelmisch zu und schlug die Augen nieder.


Schon bei seinen ersten Schritten ließ dass Gefühl dann nach; er sah mich wieder an und flüsterte fast entschuldigend:


"Ich kann nichts dafür. Aber du musst dir wirklich nichts daraus machen. Wir beide wissen, wo du hin gehörst!"

----

Georg hatte die Leiter in abgewinkelter Stellung aufgeklappt und auf der Hügelspitze über ein Loch gestellt.


Diese Vierteil-Klappleitern aus Aluminium sind sehr praktisch; gerade bei solchen Gelegenheiten wie wir sie jetzt antrafen kann man sie den Gegebenheiten des Geländes optimal anpassen.


Im oberen Knick der Leiter hing bereits die Rolle, durch die mein Sicherheitsseil lief. Unter diesem Knick - wie ein auf dem Kopf stehendes V - war genügend Platz für mich.


"Helm mit Lampe, Jacke, kleiner Steiggurt, Gürtel, Handschuhe!" sagte ich zu Pesmy, aber Emre stand schon bereit mit den Sachen. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass er an Pesmy und mir vorüber gekommen sein musste!


Mussten wir aber abwesend gewesen sein!

Na, ich schlüpfte in meine Sachen und warf einen Blick in das Loch. Georg wedelte mit einer Stablampe an meinem Kopf vorbei und dozierte:


"Ich halte es für eine Zisterne - zugegeben, eine wirklich sehr große! Leicht oval, über fünf Meter an der breitesten Stelle, schätze ich. Wie tief kann man nicht sehen. Das müssen wir noch loten; die Stange reicht nicht bis zum Grund von hier oben aus.


Also über sieben Meter tief! Und zumindest teilweise sogar noch dicht, denn siehst du, ab etwa vier Metern Tiefe ist der Wasserspiegel."


Ich leerte sorgfältig alle Taschen, denn es würde sicher eine nasse Angelegenheit werden. Den Akku und den Ersatzakku für die Kopflampe steckte ich zunächst in die Brusttaschen der derben Jacke. Dann packte ich sie aber doch an den Helm, klemmte sie hinter den Gummiriemen – je höher, desto besser! Zur Sicherheit klebte sie Georg noch mit etwas Tape dort an.


Die Kuppel der Zisterne war seltsam geformt; nach oben bauchiger als andere, die ich kannte, und nicht alle Bereiche konnten jetzt abgeleuchtet werden.


Wie geschmolzenes Zinn lag der Wasserspiegel unter mir, von den nachrieselnden Sandkörnchen nur ganz leicht bewegt.

Ja, das war wieder ein 'Loch für mich'!

Sicherheitshalber ließ ich aber dennoch mein „großes Geschirr“ herbeischaffen, also dieses zusätzliche Oberkörper-Gurtsystem. Wenn ich ja gleich frei hängen musste, war mir das auf Dauer damit sicherer als nur im Dülfersitz oder nur mit kleinem Beckengurt und Gürtel.


Also legte ich nun dieses Geschirr zusätzlich an, zurrte die Klemmen fest und hängte am Gürtel und dann vor meiner Brust die Karabiner mit der Leine wieder ein.


Das Loch hatte etwa eine Fläche so groß wie eine aufgeschlagene Zeitung und war fast rund. Ich schwang mir langsam die Beine hinein.


Konzentrieren…


Etwas mehr Sand kam seitlich von mir in Bewegung und die Wasseroberfläche dort unten kräuselte sich, wie ich zwischen meinen Schenkeln hindurch sehen konnte.


"Zieht mich bitte etwas hoch, bis ich hänge!" bat ich, griff nach den erreichbaren Leitersprossen und zog mich über das Loch.


Als ich die Spannung meiner Leine fühlte, schaute ich zu den Männern am Seil - einer von Ihnen war Pesmy - und nickte.

Als sie mich hinunterließen, schaltete ich meine Lampe ein. Etwas diffuseres Licht umfing mich, als auch mein Kopf die Lochöffnung passiert hatte.


Es roch gut, gar nicht etwa muffig.

---

"Reicht mir mal die Stange hinunter!" rief ich nach oben.

Ich hing mit meinen Beinen bereits im Wasser, meine Hand hatte eben plätschernd wahrgenommen, dass es schön kühl war.


Ich roch daran, während oben hörbar Bewegung war. Nur Georgs Kopf war jetzt dort oben noch zu sehen. Das Wasser roch neutral.


Jetzt war die Stange da und wurde zu mir hinunter geführt. Alle Meter und an den Enden hatte sie eine Wicklung mit orangefarbenem Isolierband, so dass man Entfernungen sehen und feststellen oder wenigstens auf Sicht schätzen konnte.


"Etwas tiefer!"

Jetzt hing ich bis zum Nabel im Wasser.


Die Stange fand keinen Grund. Ich rief um weiteres Nachlassen des Seils und beugte mich hinunter. Die Stange und fast mein ganzer Arm waren im Wasser verschwunden – das Wasser schwappte an meinem Kinn…und ich stocherte weiter.


Endlich!


Grundberührung!


Ziemlich hart fühlte sich das sogar an, nur ganz wenig weicheres Material, vielleicht fünf bis zehn Zentimeter mächtig. Wenig Sediment also; hier muss es über Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, sehr dicht gewesen sein…


Wirklich sehr groß und tief war die Zisterne.


Meinen Arm eingerechnet also fast zwölf Meter, davon fast acht Meter Wasser!!


An den Klebebandmarkierungen konnte ich abschätzen, dass ich etwa drei Meter tief sehen konnte. Das Wasser war ziemlich klar.

Ich richtete mich wieder auf und reichte die Stange nach oben. Dabei kam ich etwas ins Schwingen und dadurch reichte der Schein meiner Kopflampe nun in Areale der unregelmäßig geformten Kuppel, die ich vorhin nicht einleuchten konnte.


Aha!


Dort nämlich, etwas über mir, mündete vielleicht zwei Meter unter dem Eingangsloch ‚mein’ Schacht von heute Vormittag! Genau die gleichen Maße und die glatten Steine. Wohl ein Überlauf. Dort, in der Mündung, kräuselte sich der Körper einer kleinen Schlange, die ich nicht sicher benennen konnte…


neben mir plätscherte etwas leise - -


von oben hörte ich hallend Georgs Gebrüll und sofort schnitten alle Gurte des Geschirrs in meine Haut ein, so derb wurde ich nach oben gezogen!


Oben stieß ich sehr stark mit dem Kopf an die Decke; ich schloss vor Schmerz die Augen, lobte in Gedanken meinen Helm und sah Lichtblitze in meinen Augäpfeln.


Dann fühlte ich Sonnenschein, eine Menge Hände...


das Geschirr wurde mir abgeschnallt und ich sah Pesmys und Georgs besorgte Blicke.


Was war denn in die gefahren?

"Hast du die Schlange genauer gesehen??" fragte Georg hastig und schüttelte mich sogar! In seiner Erregung hatte er das sogar in Französisch gefragt - was außer mir hier wahrscheinlich kein Mensch verstehen konnte.


Mich überlief ein Schauer, schlimmer als heute Vormittag, als ich im Spiegel das Geschlängel sehen musste!


Was für eine Schlange??

„DU kannst die doch gar nicht gesehen haben an deinem Loch! Die war doch oben an der Einmündung des Überlaufs…“

"Im Wasser! Ich sags dir!! Eine Schlange! Ich habe die genau gesehen!!" Georg hatte sich nun wieder soweit in der Gewalt, dass er wenigstens wieder englisch sprach.


Mir wurde schlecht. Es mag vielleicht verwundern, gerade bei meinem Beruf - aber da bin ich wie Indiana-Jones: Ich HASSE Schlangen!!!


Ich finde sie faszinierend, solange ich mit ihnen nicht in Berührung kommen muss. Ich HASSE Schlangen!!!


Mir wurde schwindlig, dennoch wälzte ich mich zum Loch herum und lugte hinein. Viele Köpfe taten das gerade, auch Mustafa und Emre.


Ich presste mich zwischen die Haarschöpfe.

"Eine Levanteotter." konstatierte Pesmy trocken. "Noch ziemlich klein."

Der alte Mustafa sah sehr ernst und langsam auf und dann mit bedauerndem Blick hin zu mir.


Mir verschwamm alles vor den Augen, meine Beine schmerzten wie Feuer und ich hatte plötzlich Todesangst!!


"Liebschtes!!" schrie mir Georg ins Ohr und schüttelte mich.


Es klang wie weit weg und vom Schütteln merkte ich nur, dass mein Kopf fast vom Hals fallen wollte...ein fürchterlicher Schwindel überkam mich, ich wollte mich an Georg festhalten - aber meine Arme waren wie taub und ich konnte sie nur ganz wenig hochheben.


Ich sabberte aus einem meiner Mundwinkel und meine Augen ertrugen das Licht nicht. Dennoch war ich plötzlich zu schwach zum Schlucken und sogar zu schwach zum blinzeln oder um die Augen zu schließen.


Das war es dann wohl! dachte ich mit unendlichem Bedauern und tiefem Erschrecken. Weh tat gerade eigentlich nichts mehr, nur die Staubkörnchen in meinen Augen nervten und der eingebildete Angst-Schmerz in meinen Beinen.


Georg tat mir unendlich Leid. Er hielt mich noch immer vor sich hin, stützte mir meinen Kopf und seinem Blick nach zu urteilen...na, er schien vor Besorgnis sogar noch vor mir sterben zu wollen.

Die Geräusche um mich herum wurden wieder etwas lauter. Was war das für ein alarmierender, kratzig-blubbernder Ton, der mal da war und dann wieder nicht? Sowas hatte ich noch nie gehört! Wie wenn man mit dem Strohhalm in sein Getränk bläst…


War das am Ende ICH selber?? War das mein Luftholen?


Und mein Herz - ich fühlte es rasend schnell schlagen, so schnell, dass es wehtat!

"Du schtirbscht mir ja!"


schrie Georg in höchstem Schmerz in mein Gesicht.


"Diesmal nicht! Nein, dieses Mal NICHT!!!" brüllte er mich, wie befehlend, an wie ein Feldwebel, aber auch wie zu sich selbst und ließ mich los.


Ich fiel aber nicht nach hinten, sondern lehnte irgendwo weich an - nun wusste ich auch wo, sah ich Pesmys Hand auf meinem Bauch. Leider sabberte ich ihm darauf; lange, schnell laufende Speichelfäden.


Oh, wie ich dieses wehrlose, sieche, sterbende Gefühl jetzt schon hasste!! Mochte es wenigstens schnell vorbei sein!

Andererseits war ich nun wenigstens innerlich seltsam klar und konnte, wenn nicht gerade alles viel zu hell war, auch wieder etwas besser sehen.


Und so musste ich nun leider wahrnehmen, dass Georg kurzerhand meine Hose auszog - begleitet von Gemurmel der Einheimischen, welches sich verstärkte, als sie sahen, was ich jetzt sehen musste: Ich hatte alles unter mich gehen lassen.


Georg tastete an meinen Beinchen herum - -

und fand schnell den Biss.


Linkes Bein; zwei Fingerbreit über dem Außenknöchel, etwas zur Vorderseite hin. Dort, wo noch nicht gerade sofort das Schienbein getastet werden kann sondern erst noch etwas weiches Gewebe unter der Haut zu fühlen ist.

Okay. Das war’s dann jetzt.


Ich dämmerte weg, hörte nun wieder weniger – und ansonsten pfiff es in meinem Kopf.


"Diesmal NICHT!!" brüllte Georg, ich nahm es wieder nur wie aus weiter Ferne wahr. Er holte aus meiner Hose, die unter meinen Beinen lag, den alten Ledergurt, staute damit die Venen meines Beines - und klappte sein Säckchelimesserle auf.


Das letzte, was ich wahrnahm, bevor ich starb, war mein Erbrechen auf Pesmys Hand, dann so etwas wie ein Krampf im Kehlkopf - meine Brust wollte platzen, hob und senkte sich eilig, aber ohne Effekt! - und dann der kurze Schnitt, den Georg in die nun schon dunkel verfärbte Stelle da unten an meinem Knöchel machte.


"Ja, ich weiß, dass man das nicht machen soll!" schrie er Pesmy hinter mir an. "Aber sieh sie dir doch an; sie stirbst mir ja hier weg!!


DIESMAL NICHT!!!!"

Ich dämmerte weg.

Oh, wie habe ich diesen Mann geliebt!

So eine Gemeinheit!!

Egal, wo ich jetzt hinkommen würde: Über dieses Lebensende zum unpassendsten Zeitpunkt überhaupt wollte, musste ich mich doch sofort beim Boss beschweren!!

Und ich war davon überzeugt, dass er mich NICHT auslachen würde...


sollte der ruhig mal ein schlechtes Gewissen haben!

…………….

Elend

Eigentlich war es ganz einfach:

Es hatte eben nicht sollen sein. Punkt.


Vielleicht hätte ich schon bei dem Sturz mit dem Auto von der Brücke sterben sollen? Dann wäre mir vieles erspart geblieben!


Was mir im Leben nicht erinnerbar war, daran erinnerte ich mich jetzt, im Tode: unter Wasser, damals; Sand in Augen, Mund, Kehle – was blieb mir denn übrig? Sand und Wasser einatmen! Meine Hände, die das Gurtschloss nicht fanden. Das trübe Wasser des Tejo – und Sand, Sand, Sand!


Meine Fingernägel brachen ab, am Gurt, an meiner Kleidung.


Nur raus hier! Aber wie??


Luft!!!


Das Brennen in meiner Brust, in meinen Lungen, überall! Das undeutliche Gesicht mit den roten Wuschelhaaren überall direkt vor mir, Luftblasen, Hustenreiz, Sand, Sand, Sand!


Angst, Panik, Schmerzen; dann die schreckliche Erfahrung, dass meine eigenen Finger in meinem Mund und meinem Gesicht erfolglos versuchten, irgendwie die Atemhindernisse zu beseitigen – irgendwann griff ich nach dem Gesicht vor mir, als sei dies das Hindernis. Kratzte und biss um mich.


Mit unwiderstehlicher Gewalt umfasste mich der riesenhafte, rothaarige Schemen da vor mir. Alles tat unsagbar weh, und meine erfolglosen Luftholversuche - - alles zu spät.

Wegdämmern.


Einfach von diesem Fluss davontragen lassen…in den Atlantik…und Tschüss.

Nur der Sand in den Augen nervte….

----

…so wie jetzt.


Furchtbar!


Helles Licht blendete mich und auf mein Gesicht drückte etwas. Undeutliche Gestalten, Oberkörper, Gesichter, alles im Schattenriss, um mich herum - - und Sand, Sand, Sand in den Augen.

Stimmen.


Viele.


Aus allen Richtungen.


„Go on! Go on!“


War das Georg?


Der seltsame Druck auf meinem Gesicht, meinem Mund lenkte mich etwas ab von den Sandkörnern in meinen Augen.


Ah ja. Der unmissverständliche psychosomatisch-eingebildete Angst-Schmerz in meinen Beinen. Also lebte ich doch noch?!

„Renate! Liebschtes!! Hörscht du mich??“


schrie es an meinem Ohr. Mein Versuch zu nicken wurde quittiert von plötzlichen, rasenden Kopfschmerzen. Aber immerhin!


Ich war noch da.


Und Georg war auch da!


Da konnte das Leben ja kommen.

Undeutlich erkannte ich, während ich an meinen Ohren und Schläfen meine Tränen spürte und überhaupt wieder etwas sehen konnte, dass irgend jemand mit einem Beatmungsbeutel (ein Hoch auf Georgs Notfallkoffer!) über meinem Gesicht und an meinem Mund zugange war – gleichzeitig mit dem Erkennen von Pesmys breitem Messingarmreif am Handgelenk über mir übergab ich mich.


Eigentlich tat es aber gut.


Ich hörte mich pfeifend Luft holen und jemand drückte mich an sich. Ein anderer machte sich mit einem angenehm kühl-feuchten Lappen an meinem Gesicht, an meinen Augen zu schaffen.


Mir war kotzübelschlecht und der übermächtige Schwindel war auch wieder da. Gleichzeitig mit der unfassbaren, nie vorher gekannten Schwäche und Mattigkeit – aber wieder spürte ich jeden einzelnen meiner sehr schnellen Herzschläge.


Gerade sah ich noch meinen linken Knöchel. Er lag in einer ordentlichen Blutlache, die sich auf meiner Hose, der Unterlage, gebildet hatte. Aus dem Schnitt blutete es jetzt nicht mehr. Dafür war mein Bein bis hinauf zum Knie dunkelrot und bläulich marmoriert und dick geschwollen. Große Blasen, die sehr schmerzhaft sein mussten. Der Schnitt war durch die Schwellung ganz aufgeklafft …das musste ja höllisch wehtun! Erstmalig segnete ich meine Querschnittlähmung, die mir diese Schmerzen wenigstens ersparte!


Was aber mochte nun weiter werden?

Eine warme, große Hand fasste meine Wange und ein Schmirgelbart – sicher rot - war an der anderen Wange zu fühlen.


Oh wie gut. Wie gut!


Georg sagte etwas, aber das verstand ich leider schon nicht mehr.


Ich dämmerte wieder weg; aber ganz ohne irgendwelchen Stress – ich war ja gut aufgehoben!

----

„Sie sagt, sie ist sicher, dass es das richtige ist! Etwas anderes hat sie auch nicht.“


Pesmy musste sehr nah bei mir sein, in meinem Ohr tat seine Stimme fast weh.


Ich fühlte einen Piekser am Arm und jenes Gefühl, das ich gar nicht mag, wenn es dann so diffus „drückt“ – jemand gab mir eine Spritze.


“Es ist aber DOCH nicht das richtige!! Guck mal da!“ Das war Georgs erhobene Stimme.


“Hier steht’s, auf der Ampulle: ‚Arachno…’, also doch irgendwas mit Spinnen, vielleicht allerhöchstens Skorpionen! Das ist das falsche Mittel! Nix mit Schlangen!!!“


Ich hörte ihn nach Emre rufen, es folgte etwas weiter weg ein hektischer Disput.


Es roch beruhigend nach Pesmys Schweiß und Atem – eigentümlicherweise roch ich sehr intensiv gerade, dafür verschwamm und zerfloss vor meinen einmal kurz probeweise geöffneten Augen alles in bunten, viel zu grellen kaleidoskopartigen Farb-Kakophonien. Schwindlig wurde mir davon außerdem.


Also Augen schnell wieder zu und - - DURST!!


Ob ich was sagen konnte?


Hoffnungsvoll versuchte ich es mal.


Einziger Erfolg war ein kleines, hauchendes Säuseln und ich gab es auf. Für einen neuerlichen Versuch, fühlte ich, hatte ich auch keine Kraft.


Pesmy verstand aber wohl doch, was ich nötig hatte; ich spürte seine Bewegung in meinem Rücken, an meinem Kopf und gleich hatte ich etwas Hartes an meinen Lippen.


“Trink, Rena-Dear!“ hörte ich ihn sagen. Da mir grad nicht mehr übel war, trank ich soviel wie nur möglich bis ich außer Atem war.


„Wenigstens einen halben Schluck. Immerhin! Georg, wir kriegen sie durch!“


Dann hörte ich nur noch, dass sich das Stimmengewirr entfernte und Georgs sonore, tiefe Stimme, die sich näherte:


“Mustafa und Emre sind überzeugt, dass sich etwas finden lassen wird. Schließlich gibt es hier noch andere Hastane. DAS hier ist ja nur die erstbeste Möglichkeit gewesen, kein eigentliches Krankenhaus, wohl nur so was wie ein Gemeindeschwester-Stützpunkt – und die Schwester hier ist zwar nett, hat aber hiervon leider keine Ahnung. Wer weiß, ob sie überhaupt eine richtige Schwester ist! Wenigstens ist hier klimatisiert und sauber, also bleiben wir zunächst mal hier…“

Mein Held.


Meine BEIDEN Helden!


Und die anderen.


Kümmerten sich.

Innerlich musste ich grinsen über solch schmalzige Gedanken – aber dennoch: Es traf doch wohl die Situation!!


Mit großer Dankbarkeit dämmerte ich wieder in andere Gefilde.

Sah mich ohne Bein.


Denn dieses verschwollene, in allen Farben verfärbte Ding war wohl nicht mehr zu retten…


WIEDER diese Ochsentour in irgendwelchen Reha-Einrichtungen! Wieder diese unendlichen Übungen, bis man sich wieder sicher war…und soll noch dankbar sein, dass man lebt…

Sah mich, wie ich mühsam wieder gelernt hatte, mich zu bewegen.

Damals.


Ja, damals ja auch!


Ich hatte das ja schonmal so ähnlich hinter mich gebracht…


Die Therapeuten, die Krankengymnasten.


‚DU musst es schon selber auch wollen! Ich kann nicht zaubern!!’ Die Stimme von Agnes hatte ich noch im Ohr. HATTE die sich Mühe mit mir depressivem, hoffnungslosen Geschöpf gegeben!


Damals.


Und als ich dann endlich soweit war, mit dem Rolli in die Stadt zu können; mit seitlich wenn auch nur leicht abfallenden Bürgersteigen zurecht zu kommen, die immer wieder zu Schlangenlinien-Fahrereien geführt hatten…damals.


Und diese brennenden, zermuskelkaterten Arme danach!


Damals.


Und dann das erste Mal, da war ich aber schon richtig fit, als ich mit dem Rolli in der erlernten Technik eine Rolltreppe hochgefahren bin!! Agnes war da natürlich auch dabei und freute sich mit. Die Gute! Wie oft hat sie das in ihrem Job bestimmt schon machen müssen – und sicher schafft sie es immer wieder, wie damals bei mir, so zu tun, als sei es wirklich bei jedem Patienten was Besonderes!


Ist es ja auch!!!

Zur Feier dieses Ereignisses waren wir bis hinauf in die Schuhabteilung des Kaufhauses gefahren. Und dort hatte sie mir überaus elegante, weiße Pumps ausgesucht, mir angezogen und mir gezeigt, wie ich es machen muss, mein Untergestell auf die Fußteile zu stellen ohne dass die Fußgelenke einknicken…oder die Beine ‚unzüchtig‘ auseinanderfallen…sie hatte meine einmal umgeschlagenen Hosen heruntergeklappt, glatt gezogen und mich vor den Spiegel gefahren – was hatte ich geweint!!!


Sah ich doch wirklich tatsächlich noch aus wie eine Frau…?


Wir hatten die Schuhe gekauft.


Damals.


Als Belohnung.


NIE mehr hatte ich sie seitdem wieder an. Vielleicht hätte ich sie für Georg mal angezogen, zu einem besonderen Anlass??


Na, EINS war ja klar: Ich würde wohl über kurz oder lang nur noch einen der Schuhe brauchen; den rechten…

Und dabei hatte ich doch erst gerade geträumt, ich würde neben Georg hergehen.


GEHEN!


War ja klar. JEDER, das so was hat wie ich, TRÄUMT solche Dinge…wie in den schlechten Filmen…


Vielleicht brauchen wir solche Träume für unsere Psychohygiene?


Aber Schwachsinn ist es trotzdem.


Und weh tut es auch jedes Mal…

…beim Aufwachen…

----

Ein weiterer Piekser, nun am anderen Arm, weckte mich.


Ich fühlte mich wider Erwarten eigentlich ganz frisch. Naja. Was heißt hier frisch…aber kein Vergleich zu vorher!


Kopfweh hatte ich noch. Aber als ich blinzelte und daraufhin die helle Deckenleuchte ausgeschaltet wurde, konnte ich sogar wieder etwas sehen. Ohne flirrende Farbenspiele, Schwindel oder Übelkeit.


Georg bedeckte meine Augen mit Küssen und nur noch die allerletzten Sandkörner waren etwas unangenehm. Die paar Tränen durch diese Reizung hatten die Störendriede aber sehr bald vollends ausgeschwemmt.


Ich hustete wie ein Staublungen-Bergmann, dann war auch das wieder besser.


“Danke!“ krächzte ich in die Runde und räusperte mich.


“Tesekkür ederim!“ Sogar auf Türkisch klappte es schon?!


Ich war wieder da.


Pesmys Hand tauchte mit einem Taschentuch an meiner Nase auf und ich schnäuzte mich. Bei der Gelegenheit merkte ich, dass ich meine Hände und Arme noch nicht wieder bewegen konnte – natürlich hätte ich das Tuch gerne selber zur Nase geführt und mich selber geschnäuzt.


Ich bekam etwas Angst.


Denn ich hatte es schon mal, bei meinen Beinen nämlich, erlebt, dass ich etwas auf einmal nicht mehr bewegen konnte. Nichts mehr fühlen konnte dort…

Entwarnung!


Georgs fühlbar streichelnde Finger auf meinem Arm belehrten mich, dass insoweit wenigstens alles in Ordnung war.

„Die waren alle großartig! Sogar der ungnädige Herr Jeremek!“ schwärmte Georg aufgekratzt; auf Englisch, wegen Pesmy.


“Sind alle durch die Stadt gelaufen und haben Schlangenserum gesucht. Sieben Ampullen haben wir jetzt. Und hier…“ er hielt eine der Stechampullen hoch, „da steht sogar drauf: Natrix et macrovipera et al., Behringwerke, vorderer und mittlerer Orient“


„Hassan hat sogar einen Arzt gefunden. Der hat versprochen, bald zu kommen.“ Pesmy grinste, aber es war ihm anzusehen, wie die letzten Stunden an ihm genagt hatten – draußen vor dem Fenster ging die Sonne rot unter, wie ich mit einem vorsichtigen Rundumblick wahrnahm.


Der Schwindel kam dennoch wieder, aber wenigstens nicht mit dieser vernichtenden Intensität wie zuvor.

„Danke!“

Es war zwar immer noch nurmehr ein Krächzen, aber immerhin: Anscheinend war ich wieder im Geschäft!


Unter den Lebenden!


Ein Blick auf mein linkes Bein belehrte mich jedoch, nicht allzu optimistisch zu sein.


Es war noch dicker geworden, gelbgrün verfärbt. Wo vorher die Blasen waren hatte sich jetzt die Haut abgelöst. Und meine Zehen waren ganz dunkelblau-gräulich verfärbt; nicht nur die Nägel, die ganzen vorderen Glieder!

Der Angstschmerz in meinen Beinen meldete sich natürlich auch wieder. Bevor ich aber noch in meinen Gedanken weiteren Befürchtungen Raum geben konnte hörte ich türkisch eingefärbtes Englisch hinter mir – der Arzt war da und trat an meine Liege.


Ein junger, kompakt gebauter Mensch mit vertrauenerweckendem Lächeln, Stethoskop um den Hals als Zeichen seiner Würde. Ansonsten war er ‚in Zivil’; außer seinem Köfferchen und dem Horchgerät erinnerte nichts an einen Mediziner. Seinem ärmellosen Shirt und den Shorts nach zu urteilen wäre er wohl eher als beachvolleyballspielender alevitischer Playboy durchgegangen – das er Alevit war sah man an seinem Anhänger um den Hals: ein kleiner, stilisierter zweispitziger Säbel.


Sein Lächeln gefror aber jetzt augenblicklich in seinem Gesicht und er starrte mich fragend an.


„Hören Sie mal, Sie müssen doch furchtbare Schmerzen haben!!? Und da liegen sie so ruhig und aufgeräumt da??“


Schon hatte er sein Köfferchen aufgeklappt und holte eine Ampulle hervor. Sicher Morphium oder ähnliches.


Ich erklärte ihm, weshalb ich keine besonderen Schmerzen haben konnte – ziemlich leise noch, aber es ging ganz gut - was er mit dem Hochziehen einer Augenbraue quittierte.


“Das ist aber wirklich sehr schön.


Entschuldigung! …Aber in DEM Fall…


Dann kann ich ja schneiden, wie ich will!“

Ich musste wohl sehr erschreckt geguckt haben, denn er sagte gleich einlenkend - - und versuchte hörbar, es beruhigend klingen zu lassen:


“Sehen sie, Ihre Zehen sterben schon massiv ab! Die Schwellung oberhalb ist so stark, dass die Durchblutung nach unten nicht mehr ausreicht. Man nennt das Compartment-Syndrom…


Ich schneide mit einem Skalpell die Hüllen ihrer Wadenmuskeln auf; das nimmt den Druck weg und dann hoffen wir einmal, dass Ihre Zehen wieder Farbe bekommen…eine Rosskur ist es ja, und wie! Aber wenn es Das Bein rettet…“

Er griff sich ein Einmal-Skalpell aus dem Köfferchen, zog Vinylhandschuhe an, packte säuberlichst das Skalpell aus und zog den Schutz von der Klinge.


Mit der anderen Hand sprühte er aus einer kleinen Flasche Desinfektionsmittel über das Bein und bat Georg, mich, vielmehr das Bein, etwas zur Seite zu drehen, damit er besser an die Wadenmuskeln kommen könne. Er sprühte weiter.

„Ist sicher schon einige Stunden her, nicht wahr?“


Meine Helden nickten.


“Wer hat den Schnitt gemacht?“


Georg brummelte unsicher.


“Gut. Wirklich gut.“


Anerkennend nickte der Arzt.


“Sie hatten auch gestaut? Gab es auch Atemschwierigkeiten?“


Er fragte noch nach einigen anderen Dingen. Dann war das Desinfektionsmittel abgetrocknet – und er begann.


Erst die Haut, längs. Kaum Blut. Wohl aber Gewebeflüssigkeit, die aussah wie Fleischsaft.


Nichts anderes war es ja auch.


Es klaffte etwas und Mustafa im Hintergrund schluckte und wurde blass. Weißlich-gelb spannte das Unterhaut-Fettgewebe durch den Schnitt.


Mir wurde etwas flau.


Nächster Schnitt. Das sehr dünne Fettgewebe riss, nein flutschte eigentlich mehr auseinander, als dass es durchtrennt werden musste. Grotesk, wie nun die Wundränder auseinanderschnellten! Weißlich-durchscheinend wurden die Muskelhüllen, die Fascien, sichtbar in der nun weit klaffenden Öffnung.


Mehrere, jetzt im Zick-Zack gesetzte Schnitte mit einem neuen Skalpell trennten dieses Häutchen durch, rot trat das Muskelgewebe hervor.


Mit einem großen Verbandtuch, das eigentlich für Brandwunden gedacht ist, deckte der Arzt das ganze Bein ab und machte einen lockeren Verband. Nur der Fuß blieb frei.

„So. Nun warten wir mal ab. Hoffentlich war es noch nicht zu spät. Haben Sie schon was getrunken??“

Dann und wann versuchte Herr Mete, so hieß der nette Arzt, am Fußrücken den Puls zu tasten.


Wir warteten.


Über eine Viertelstunde lang.


Ich bekam die zweite Ladung Schlangenserum.


Immer wieder die gewissenhaft tastenden Finger des Arztes auf meinem Fußrücken, nach dem Puls...

Endlich sah er auf – und lächelte vorsichtig, verhalten. Tastete noch mal nach dem Fußrückenpuls, und zum Vergleich den Puls am anderen Fuß – und lächelte breit!

Georg ließ sich auf seinen Hocker fallen, lehnte sich leichenblass an die Wand hinter ihm, verdrehte die Augen - - und noch bevor ihn jemand halten konnte, fiel er einfach zur Seite hin um.


Dennoch war ein kleines Lächeln auf seinem Gesicht, das ich niemals vergessen werde!!


Pesmy beugte sich zu ihm herunter, legte ihn etwas bequemer hin und fuhr ihm fast liebevoll durchs rote Struwwelhaar.


“Na, alter Junge!?? War alles ein wenig viel, hm? Kommst Du jetzt vielleicht mal wieder zu dir, ja!“


Er tätschelte mit einigem Nachdruck Georgs behaarte Wangen.

Herr Mete zog eine Spritze auf und hielt sie anbietend hoch. „Soll ich sie ihm geben? Oder wollen Sie zuerst?“ Da Pesmy für Georg abwinkte, spritzte er mir das kreislaufstärkende Mittel.

“DER braucht nichts!!“ schnappte Pesmy. „Der erholt sich schon wieder!!“


Dennoch bemerkte ich, nun selber mit etwas Besorgnis, dass der Engländer immer hektischer an Georg herumklopfte und -zerrte…

Endlich schlug mein Georg die Augen auf!

„Na bravo!“ frotzelte Lord Pemperton-Smythe lautstark. „Willkommen unter den Erweckten!


Sie dürfen die Braut jetzt küssen!“

…………..

Georg

Herr Mete hatte mich in das kleine Krankenhaus schaffen lassen, in dem er arbeitete.


Es war bereits ganz dunkel, als wir dort ankamen und ich war immer wieder ‚weggeknallt’; vor Schwindel und Herzklopfen und so…


Vor allem das Herzklopfen!


Oh, es war furchtbar, wirklich! Dieses Gefühl in meiner brennenden Brust, JETZT, jetzt klopft es nicht mehr weiter! JETZT ist es soweit!!


Ich weiß nicht, wie oft ich Georgs Hand zerquetscht habe vor Angst.


Der saß nämlich neben meiner Trage in dem Minibüssi.


Das allerschlimmste aber war, Georgs waidwunden Blick zu sehen, jedes Mal wenn es mir schlecht ging. Ein paar Mal habe ich natürlich versucht, alles zu verbergen - - aber leider war das bei der Vehemenz, mit der die Symptome kamen und gingen, nicht wirklich möglich.

Bei einer Vollbremsung auf der Fahrt ins Krankenhaus fiel mein Bein von der Lagerungsschiene der Trage und etwas Sekret trat aus; lief einfach aus den Falten des Brandwunden-Verbandtuches. Furchtbar stank das! Ich erschrak darüber und mir wurde wieder schlecht…überhaupt veränderten sich meine Zustände minütlich.


Stress pur.

Jetzt lag ich in herrlich sauberen, weißen Laken in einem Krankenhausbett. Doktor Mete war gerade noch mal da gewesen und hatte an meinem Bein herumgetupft; mit irgendeiner Lösung und mehreren Kompressen. Er hatte es offen gelassen.


Schwester Gülsüm hatte sich vorhin mit mehreren Zäpfchen, Tropfen und Kurzinfusionen um eine Verbesserung meiner Symptome bemüht; erster Erfolg war, dass mir nun wenigstens nicht mehr dauernd und anfallsweise schlecht wurde.


Nur noch diese anhaltende, diffuse Übelkeit.


Aber immerhin etwas!!


So nervten jetzt nur noch die Attacken mit diesem alarmierend schnellen Herzschlag. Das würde ich aber auch noch überleben, sagte ich zu mir – jedes Mal; wirklich JEDES Mal! – um jedes Mal erschreckt feststellen zu müssen, dass es ‚das’ jetzt wohl gewesen sein musste…


Ich wunderte mich manchmal selber, dass ich bei diesen Attacken nicht wirklich auf der Strecke blieb und atmete dann immer ganz vorsichtig ein und aus.


Nicht, dass es etwa wiederkam!

Aber es kam immer wieder.

Doktor Mete hatte vorhin auch gesagt, dass ich wohl großes Glück gehabt hatte.


Normalerweise würden die Bisse der Levanteotter keine dermaßen überschießenden Symptome zeitigen, manchmal aber eben doch. Vor allem bei Bissen von noch jungen Tieren. Und dann sei alles zu spät, denn der Schmerz, die Atemstörungen, das oft auftretende Lungenödem und der damit verbundene Stress und die Herzangst spätestens brächten die Betroffenen dann um. Und entgegen der Lehrmeinung sei er zum Beispiel einer der Verfechter des Stauens und Aufschneidens; gerade, wenn der Körper derart überschießend reagiere.


Genau das aber habe Georg bei mir gemacht. Und ihm hätte ich es zu verdanken, dass ich noch leben würde – war MIR auch so klar.

“Sagen sie das bitte unbedingt Georg!“ bat ich inständig.

Er blieb bei mir sitzen und sah mich an.


„Sie sagen das so…ja, fast verzweifelt. Was ist?“


Seine Hand griff nach meiner. Ich fühlte diese Berührung, wie wenn meine Hand dick geschwollen wäre oder wie eingeschlafen – sicher auch noch eine Auswirkung von dem Gift in mir drin. Denn meine Hand war ganz normal geformt, wenn auch blass und so gut wie unbewegbar.


Herrn Metes Augen versenkten sich in meine.

Ich erzählte ihm alles.


Vom Unfall am Tejo.


Von Georgs Liebe.


Von Pesmy.


Von Georgs Selbstvorwürfen, er sei an meinem Zustand schuld.


Alles eben.

Ich weiß nicht mehr, wo, ob und mit welchen Worten genau ich zum Schluss gekommen bin – denn ich dämmerte wieder hinüber in dieses Nichts, wo nur noch der Angst-Schmerz in meinen Beinen existierte.


Dann tauchten die üblichen Bilder wieder auf, die treue Begleiter der vergangenen Stunden geworden waren. Immer dann, wenn ich das Bewusstsein verlor.


Pesmy und der Beatmungsbeutel. Ein altes Ding, das er sich irgendwo mal abgegriffen hatte in seinen ganz jungen Jahren und ohne das er niemals eine Grabungskampagne begann. Er hatte beim National Health Service gedient – statt Soldat zu werden – und seit dieser Zeit besaß er auch ein einfaches Stethoskop und einen mittlerweile ziemlich zerfledderten und zerschlissenen Blutdruckmessapparat. Ganz stolz war er darauf…


Der bedauernde Blick des alten Mustafas, als klar war, dass mich die junge Schlange erwischt hatte. ER hatte da wohl schon gewusst, was ich durchzumachen hatte!


Und dass ich draufgehen könnte…


Und natürlich immer wieder Georgs Gesicht. Sein Säckchelimesserle, das in mein Bein schnitt. Sein Drücken, Abstauen und gezieltes Massieren um den Schnitt herum und das austretende Blut.


Immer wieder zwischendurch mein Spiegelbild, damals mit Agnes im Kaufhaus; mit den schönen Schuhen.


Agnes hatte danach auf mein Bitten hin einen Abend mit mir verbracht. Ich musste einfach damals mit jemandem reden, der …na ja, der eben einschätzen konnte, wie es mir mit allem so ging!


Da war die herzliche Krankengymnastin, die mittlerweile zur Freundin geworden war und noch heute ist, genau die Richtige.


Sie hatte sich damals stundenlang mein Lamento angehört.


Über diese elende, spastische Inkontinenz. Alle möglichen Probleme. Keine ‚vollständige’ Frau mehr sein…


Überhaupt, mein Ärger über solche Formulierungen in den gängigen Broschüren und sogar in Fachbüchern, wie zum Beispiel:


“Es ist für weibliche Betroffene besser zu ertragen, in sexueller Hinsicht, mit ihrer Behinderung leben zu müssen als für männliche Betroffene. Denn während der Mann organisch zum Beischlaf zumeist nicht mehr in der Lage ist, erweist sich bei der Frau die Behinderung nicht als grundsätzliches Problem. Die organischen Gegebenheiten sind die gleichen; lediglich die nervöse Reizbarkeit und die Produktion von Gleitsubstanzen in der Vagina sind verloren; ersteres ist für Begattung und Befruchtung vernachlässigbar, letzteres mit einfacher Applikation entsprechender Mittel wie etwa Gels oder Fettcremes zu substituieren…“


Ärger!!!


Agnes hatte damals ganz einfach von sich erzählt.


Und von ihrer Schwester, die in frühem Kindesalter durch einen Unfall querschnittgelähmt wurde, inzwischen aber erwachsen war und gar zwei Kinder geboren hat.


Und sie hatte mich - nach einem tiefen und vertrauenerweckenden Blick in meine Augen, der mir sagte, dass es jetzt ‚technisch’ wurde und eben nicht persönlich – berührt. Ja, sie hatte mich berührt; so gut wie überall!


Wir haben gemeinsam herausgefunden, WO genau ich noch WIE empfinden konnte. Sogar ein paar neue Stellen hatte sie mir gezeigt!


“Überall, wo es dich jetzt kitzelt – klar, ICH bin es ja auch jetzt, die da streichelt – überall da wird dich der Richtige erregen können!“ hatte sie gesagt.


“Deinen Kitzler hast Du bestimmt schon selber ausprobiert?“


Natürlich - - - sie hatte aber dann sicher schon an meinem Blick gesehen, wie weit es damit her war.


„Das ist eben so. Bleibt auch so. Nicht zu ändern.


Dafür wird aber anderes wichtig. Wird anderes sogar erregbarer. Jedenfalls ist es bei meiner Schwester so und bei vielen anderen, die ich kenne – und ich kenne natürlich eine ganze Menge, bei meinem Beruf! Zum Beispiel spüren sehr viele mehr Erregung bei Zungenberührungen als zuvor; also bei Küssen und so.


Wie fast alle wirst du es auch sehr genießen können, wenn deine Beine hochgenommen und abgespreizt werden – du wirst öfter als früher beim Sex die Augen offen haben, denn vieles dort unten im gelähmten Bereich wird per Auge aufgenommen und dadurch erregend…und, glaub mir, sogar erregender als vorher. Sagen jedenfalls alle…


jede erlebt in dieser Hinsicht interessante Dinge, die sie sich vorher nie vorstellen konnte!


Das glaube mir jetzt einfach mal!


Und der richtige Mann wird dich immer ‚mitnehmen’. Und IHM geht auch nichts ab. Du wirst sehen!!


So, und jetzt komm mal mit!“

Dann hatte sie mich an meinen Schrank gerollt; meinen Kleiderschrank, der mir in meinem Zimmerchen in der Rehaklinik zur Verfügung stand.


Ein großer Spiegel aus dem Gymnastikraum stand neben dem Schrank. Bestimmt hatte Agnes den besorgt.


Agnes hatte den Schrank geöffnet…heute Morgen war ich noch dran gewesen, aber jetzt hingen zusätzlich neue Sachen darin, wie ich sofort sah.


“Ich habe mit deinem Bruder telefoniert. Der hat den Fummel heute Nachmittag vorbei gebracht. Netter Kerl übrigens, wenn ich nicht schon einen hätte…hihi!“


Ich weiß noch, dass ich sehr beklommen tief Luft geholt hatte – da hingen meine schönsten Klamotten, sogar mein Ballkleid vom Abschlussball der Fakultät.


Und die mit Pailletten und Strass ornamentartig verzierte schwarze, knallenge und hochteure Edel-Jeans.


Und…


Alle meine Schuhe und sogar die Winterstiefel – auch die eleganten! Dazu der größte Teil meiner Tücher, Schals, Haarbänder und dieser ganze Kleinkram…


der Schrank platzte aus allen Nähten.


ALLES hat sie mir angezogen; nacheinander. Dann immer: Vor den Spiegel fahren, mich selber wieder bewundern lernen – wie sie es nannte – und dann wieder das nächste Outfit.


Stundenlang.


Auf Nachteile machte sie mich ebenfalls aufmerksam. „Wir sind ja nicht für Spaß hier!“ krähte sie dann unternehmend, demonstrierte mir, dass beispielsweise die schwarze Edel-Jeans für das Sitzen im Rollstuhl falsch geschnitten war und entweder geändert werden musste oder oder oder…


Ich war wenig überzeugt gewesen.


Sie schimpfte mit mir, weil ich mir die Haare abschneiden wollte – was ich ja später wirklich getan hatte, wie schon berichtet.


Bis zum frühen Morgen hatte sie auf mich eingeredet wie auf ein krankes Fohlen.

Alles dieses spukte durch meine Ohnmachten. Das Ballkleid vor allem. Und die Schuhe.

“Welche Schuhe?“


hörte ich wie durch Nebel die Stimme von Doktor Mete.


Aha, war ich wohl wieder unter den Wachen – und ich schien wohl vor mich hin gesprochen zu haben?


Hoffentlich hat er nicht allzu viel davon verstanden, dachte ich noch.


Seine Augen waren aber wie vorhin; warm, offen, aufmerksam.


Er fragte noch einiges in mein Gesicht, aber ich war noch nicht ganz aufnahmefähig und verstand noch nicht recht. Ich blinzelte mich vollends wach.


Ah, er redete deutsch!


Klar, daher hatte er das mit den Schuhen auch verstehen können.


Sein Deutsch war aber schlechter als sein wirklich ordentliches Englisch, sicher hatte er nicht lange bei uns gelebt.

„Habe ich schon gesagt den rothaarige Riese. Hat gerettet dich. Hat sich hingesetzt und geheult. Habe ich ihn geschickt zu dusche und andere Mann, der Inglis mit der lange Gesicht, hat gesagt, er hol Kleider für Riese und fahre weg.


Riese musse nämlich auch dableibe. Hier. Ein Nacht….“


Doktor Mete erzählte. Von Georg. Davon, dass er Furchtbares hinter sich haben müsse. Allein, wie er mich ganz allein zu unserem Bus geschleppt hatte – und der stand sehr weit weg. Dann die Suche nach geeignetem Serum und alles. Aber alles das hat diesen Mann sicher nicht umwerfen können. Sagte auch Doktor Mete. Er sei nicht umsonst zusammengeklappt am Abend, sondern das sei einer sehr, sehr tiefen Besorgnis zuzuschreiben, einer Angst. Und dies, zusammen mit allem anderen hätte eben so etwas wie einen Nervenzusammenbruch hervorgerufen. Vor allem, als Georg nicht mehr zu mir gelassen worden war…


Ja. Klar. Wir waren hier natürlich in einem türkischen Krankenhaus. Und außerdem, verdreckt wie er sicher noch war, durfte er erst Recht nicht zu mir hierher in diese sauberen Gefilde!


Der Arme.


Hoffentlich ging es ihm nicht allzu schlecht!


„Warum genau muss er hier bleiben? fragte ich den Doktor.

Er erklärte mir, dass Georg sich gewehrt habe, als er die Spritze bekommen sollte. Man habe also dann versehentlich, im Gewühl, eine Ader getroffen und das Mittel sei eigentlich für intravenös zu hoch dosiert gewesen. Georg habe entsprechend darauf reagiert und man wolle ihn zur Sicherheit eine Zeitlang beobachten.


Außerdem habe auch er Ausfallerscheinungen gezeigt; nicht viel und nichts Schlimmes, aber doch Sehstörungen und am Arm ein kleines Areal, wo man morgen sicher abgestorbenes Gewebe würde entfernen müssen. Pesmy habe denn auch berichtet, dass Georg in die Zisterne hinunter gesprungen war, um die Schlange zur besseren Identifizierung hinauf zu holen. Und dabei eben auch gebissen worden ist.


Ein klein wenig Gift hatte die Schlange sicher noch gehabt. Deshalb vor allem müsse Georg auch da bleiben.


Ich lächelte innerlich über meinen ungestümen Schweizer. Von wegen langsam! Mein Held!!

“Ich ihm habe erzählt, dass er Leben erhalte hat deins. Viel geheult, war aber dann gut. Wollt unbedingt nach hier. Pfleger Tayfun Ömer aber ist Meister von Iskenderun in Ringkampf…“

Hui! Na, dann hatte mein Georg wohl keine Chance?


Einen schönen Moment lang war ich ganz bei ihm…


Und malte mir aus, wie er und der Ringkampf-Pfleger sich gegenüberstanden – falls Georg noch stehen konnte! – und einander mit tückischen Blicken musterten…ein wirklich schönes Gefühl, dass Georg zu mir wollte…


mein Georg!!!

„Was wird nun weiter mit uns?“ fragte ich den Doktor.


Ich hätte gerne noch mehr gefragt und gesagt, aber diese vermaledeite Schwäche kam wieder und der Druck hinter der Stirn. Den kannte ich schon; lange würde ich nicht mehr wach sein…


Herr Mete wechselte ins Englische, wohl weil er sich dort sicherer fühlte hinsichtlich der medizinischen Erläuterungen.


“Georg Zurbriggen wird wohl keine weiteren Probleme mehr haben. Morgen schneiden wir alles weg, was weg muss und gut.


Bei Ihnen sieht es aber etwas anders aus.


Ich muss Ihnen leider sagen, dass ich mit Ihren Zehen noch nicht zufrieden bin. Sehen sie, die Kuppen wollen einfach nicht wieder so recht Farbe kriegen! Ein ähnliches Phänomen wie bei Erfrierungen. Gut aber, dass da wenigstens nichts dunkel geblieben oder gar wirklich schwarz geworden ist! Morgen wissen wir da mehr.


Es laufen entsprechende Infusionen, wie Sie sehen und – na, und im Laufe der Nacht sollten ihre Herzbeschwerden auch endlich verschwinden. NOCH sind Sie aber nicht sicher, deshalb bleibe ich noch ein wenig hier.


Die neurologischen Ausfälle und Missempfindungen geben sich erfahrungsgemäß in einigen Stunden. Was allerdings sein kann, ich will Ihnen da nichts vormachen, dass Missempfindungen und auch Schmerzzustände in allen Gliedmaßen und so zurückbleiben können. Manchmal kommt es vor, dass die Betroffenen ihr gesamtes weiteres Leben Missempfindungen haben…


Aber das wollen wir nicht hoffen!


Ihr Glück ist, dass ich Ihnen wegen ihrer Behinderung keine Schmerzmittel geben muss. So können einige durchaus mögliche Komplikationen und Wechselwirkungen vermieden werden. Hätten Sie Gefühl in dem Bein, würden Sie vor Schmerz schier fast sterben ohne starke Mittel. So aber können wir Ihre Bewusstseinszustände und alles sonst viel besser einschätzen, als wenn Sie anderweit durch Schmerzmittel gedämpft sein würden.


Also, ich merke, dass Sie mir wieder wegdämmern wollen:


Ich bin noch eine Zeitlang da. Morgen wissen wir, ob Ihr Bein erhalten werden kann. Dem roten Riesen geht es bestimmt gut; ich sehe auch noch mal nach ihm….“

Mit dem Bild vom roten Riesen hob ich mich wieder in andere Gefilde.

Ihm ging es momentan sicher auch nicht sonderlich gut.


Aber ich wusste ihn wenigstens in der Nähe; Pesmy kümmerte sich, und…und…ja, UND Georg WUSSTE nun, dass er mich heute der Nachwelt erhalten hatte. Bestimmt habe ich in meiner Ohnmacht dankbar gelächelt. Denn sicher war DAS für Georg immens wichtig und half ihm sicher über sein Trauma vom Tejo hinweg.

Und ich würde die weißen Schuhe DOCH noch mal anziehen...!

…………..

Was für eine Nacht!!


Wie oft ich hochgeschreckt war wusste ich morgens nicht mehr so genau.


Immer waren dann entweder Doktor Mete oder Schwester Gülsüm da. Gerne hätte ich Hände genommen oder wenigstens Berührungen wahrnehmen können - außer in meinem Gesicht und am Hals war aber meist alles taub; wie 'eingeschlafen'.


Noch immer fühlten meine Hände sich elefantenmäßig dick an - WENN ich sie denn mal fühlen konnte.


Es tat weh, wie wenn eingeschlafene Arme aufwachen. Nur, dass der Schmerz und dieses Gefühl eben nicht weggehen wollten. Und das richtige, normale Gefühl eben auch nicht nach und nach wieder kam - nein. Alles dick und tot.

Warum ich jeweils hochgeschreckt war wusste ich nach dieser Nacht auch nicht mehr zu sagen.


Schlecht Luft bekam ich. Ich spürte auch, dass mein Kinn zitterte wie bei einem wimmernden Säugling.


Wie schön, wenn ich wieder wegdämmern konnte zu den mittlerweile sehr beruhigenden Bildern aus der Dunkelheit...

Jetzt aber war draußen hell - und neben meinem Bett kauerte Georg auf einem für ihn viel zu kleinen Hocker. Eingenickt war er! Schwankte ganz langsam von einer Seite zur anderen und vor und zurück. Aber wirklich im Schlaf!


Man hatte ihm ein weißes Flügelhemdchen angezogen.


Er war sogar rasiert und ganz, ganz sauber! Sein einer im Schoß liegender Unterarm war von einem recht dicken, weißen Verband teilweise umhüllt - und in der Bizepsgegend des anderen Armes war ein großer, dicker, blauer Fleck. Sicher war das die Stelle, wo gestern wegen seiner Gegenwehr die Injektion daneben gegangen war.


Ganz blass war er und er wirkte irgendwie klein.


Hihi! So wird aus einem roten Riesen ein weißer Zwerg! Dachte ich etwas astronomisch…

Mein blasser Held atmete ruhig, langsam und mit einem leisen Geräusch. Letzteres aber nur dann, wenn sein Oberkörper und vor allem sein Hals gerade wieder einmal eine Tendenz nach rückwärts hatten.


Ich versuchte, nach ihm zu greifen - allein, außer einem verschwindend leichten Zittern meiner Hände bekam ich keinerlei Bewegung hin! Selbst das Zittern bildete ich mir wahrscheinlich nur ein!


Ich blinzelte, ob ich auch wirklich völlig wach war...JA, WAR ICH!! Und Pipi musste ich auch! Oder so!! Jedenfalls fühlte sich mein Bauch so an, soweit ich das beurteilen konnte!


Aber meine Hände!


Ich bekam große Angst und meine Beine meldeten sich wieder.


Überhaupt!


Apropos Beine: Waren sie noch alle beide da? Furchtsam zwang ich mich, in südlichere Gefilde zu sehen.

Ja.

Meine nackten Füße ragten unter der dünnen Zudecke hervor. Klar, der eine dicker als der andere...DIE ZEHEN???


Nochmal blinzeln, Augen zusammenkneifen, genau hingucken:


JA! JA!! JAAA!!!!


Alle Zehen wieder schön rosig!


Die kranken Zehen vielleicht einen kleinen Stich hell-lila, aber immerhin!!

Gedanklich wackelte ich sogar damit vor Freude!

Wie das restliche Bein jetzt wohl aussehen mochte? Da ich mir selber die Decke nicht wegziehen konnte blieb mir nichts anderes übrig, als auf Hilfe zu warten.

Also: Ich hatte Zeit.


Zeit für Georg und mich.


Er wurde etwas unruhiger...und weil ich irgendwie nicht wollte, dass er schon aufwachte, summte ich - nach einigen, leisen Räusperern - ein Schlafliedchen.


Ach, wie gerne hätte ich ihm eine wenigstens etwas bequemere Position gegeben als ausgerechnet auf diesem kleinen Hockerchen, auf dem er weiters keinen Halt fand!

"La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zuuu..."


Hihi. Hätte ich auch nie gedacht! Das ich sowas mal machen würde.


"Drum schlaf auch duuuuuu..."

Nach einer kleinen Weile wurde Georg ruhiger und orientierte sich langsam, ganz langsam in Richtung meiner Stimme.


DAS war vielleicht ein tolles Erlebnis für mich! Konnte ICH mich auch nicht mehr bewegen - - ER bewegte sich; ICH konnte IHN bewegen - mit meiner Stimme...!!!!


Das benutzte ich nun und verfolgte sehr interessiert und ganz bei ihm, wie er sich zunächst stabil nach vorn auf seine Unterarme abstützte, nun war es wenigstens mit dem seitlichen Kippen und von hinten- nach-vorn-Bewegen vorbei, um dann langsam, ganz langsam und allmählich mit seinem Kopf und den Schultern immer tiefer zu sinken.


Bis er mit seinem Kopf und der einen Schulter auf dem Rand meiner Matratze auflag.


Endlich hatte er es bequemer!


Ich summte und trällerte wie um mein Leben weiter leise Schlaflieder und alle möglichen ruhigen Melodien, die mir nur einfallen mochten.

Oh, wie liebte ich diesen Mann!

Ob er wohl bei mir blieb, obwohl ich jetzt wohl ganz gelähmt war?

Kurz überkam mich Verzweiflung.

Dann aber wieder ein sehr beruhigendes, sicheres Gefühl. Sein Gesicht stand vor mir; IMMER war es fest und gut - wenn auch scheu. Immer, und gerade jetzt, wo wir uns einander ganz genähert hatten - - Nein, ER würde dennoch da sein!


Hoffte ich jedenfalls...


Auch dann, wenn ich meine Arme nun auch nicht mehr bewegen konnte.

Voller tiefer, respektvoller Zuneigung - na, und natürlich auch sehr verliebt streichelte ich die roten Haarlocken hinter seinem Ohr.

HAAAAH!!!!

Stimmt! Kein Traum!!!

Ja, ich streichelte - - - mit MEINEN Händen!!!! - - - tatsächlich seine roten Locken...und in diesem Moment wusste ich gar nicht, was ich mehr genießen sollte: Seine Haare und ihn, schlafend da an meiner Seite - oder dass ich meine Hände wieder...

Ich bemerkte, dass er unruhig wurde.


Klar! Ich hatte natürlich, ohne es bewusst zu wollen, mit dem Singen aufgehört!

Also summte und sang ich leise weiter...

Er sollte doch noch so lange als irgend möglich weiterschlafen!

…………..

"Gude Morge! Isse schon spät, beinah Mittag!"


flötete Doktor Mete, stolz auf Deutsch, während er die Tür aufriss. Ich freute mich zwar sehr, ihn zu sehen - aber dass Georg dadurch wach wurde, tat mir doch leid.


Der schreckte hoch; mein Arm, der auf seinem Kopf geruht hatte, fiel halbtaub herunter auf die Matratze. Immer noch ziemlich schwach - aber immerhin, ich konnte ihn vor mich hin bewegen und in meinen Schoß legen. Fühlte sich ganz normal an. Bis auf die noch tauben Fingerspitzen.

Erschrocken und ratlos blinzelte Georg durchs Zimmer, aber es dauerte wirklich nicht lange bis er sich orientiert hatte.


Herr Mete beschäftigte sich erst einmal kurz mit Georgs Unterarm.


"Jaja...diese Levanteottern machen ziemlich viel Gewebe kaputt, das man dann meist wegschneiden muss. Bei Ihnen war es aber nur ein kleiner Fetzen...wollen doch mal sehen, wie es bei Ihrer Bülbül damit aussieht!"


Damit wandte er sich mir zu und zog das leichte Laken, das als Zudecke diente, von meinen unteren Regionen. Aber nicht ganz; diskret zog er alles nur bis zur Mitte der Oberschenkel hoch.


'Bülbül'??


Sollte Songül wohl da gewesen sein? Denn woanders her konnte Mete meinen hiesigen "Spitznamen" doch wohl nicht wissen!


Was ich vorher für unförmig geschwollen gehalten hatte war in Wirklichkeit nur ein schmales Drahtgestell, welches wie ein umgedrehtes U der Länge nach über mein Bein gestellt war um die Zudecke von den offen gelassenen Wunden weg zu halten.


Daher!


Etwas erschrak ich aber doch.


Die Schwellung war gegen gestern eigentlich schon sehr zurückgegangen und die Färbung war auch nicht mehr so sehr ungesund-dunkelgrün - nein, es waren eigentlich schon ziemlich viele rosige und hochrote Stellen zu sehen. Aber doch auch einige tiefschwarze Flecken...


"DAS müssen wir wegschneiden. Aber es ist weniger, als ich befürchtet habe; viel weniger!!


Mit seiner behandschuhten Hand fuhr der Doktor sichtlich sanft auf meinem Bein herum.


"Am Besten machen wir das gleich! Ich hole jetzt nur ein paar Dinge, die ich dazu brauche. Wollen Sie mir assistieren?"


fragte er Georg, der beim Anblick meines Beines ziemlich blass geworden war.


Der nickte abwesend und Doktor Mete verschwand.


Kurz darauf kam eine Schwester und brachte Georgs Kleider, die Pesmy inzwischen gebracht hatte.


Schnell zog mein Schweizer sich an.

"Du glaubscht garnichcht, wie froh ich bin, dass du noch lääbscht!!" begann Georg und nahm mich vorsichtig in seine großen, langen Arme.


Ganz scheu drückte er mich lange an sich - haach, wie gut!

Meine Hände gehorchten mir nun wirklich vollends wieder und ich streichelte ihn glücklich, gab ihm dann einen Nasenstüber.


"Na, und DU, du Armer!? Du musstest ja auch da bleiben! War es arg schlimm mit dem Ringermeister - wie heißt er? Tayfun, nicht wahr?"

Georg winkte lässig ab.


"Ach wo! Der isch ganz nett, weischt! Chatt immer nur gesagt: Morgen! Morgen! und mich ins Bett zurückchgedrückcht. Und weil ich auch müd war...


Aber vorhin hatt michch natürlichch nichchts mehr gchehalten, oddr!! Und der Pflegcher hat es nichcht wirklich drauf ankchommen lassen! Wiewohl er jetzert auch ein paar kleinere Blessierungen beklagcht – aber sei’s drum!“"

Wieder kuschelten wir uns aneinander - bis Doktor Mete hinter uns hüstelte.


Er hatte einen kleinen Edelstahlwagen mit Verbandmaterial und einigen Instrumenten dabei, den rollte er nun an mein Bett und zog zwei flache Papierumschläge aus einem kleinen Karton.


"Darin sind sterile Handschuhe. Nehmen Sie sich bitte auch welche heraus - machen Sie mir genau das nach, was ich auch mache, ja? Und dann handreichen Sie mir. Stellen Sie sich erst einmal DA hin..."


Doktor Mete wies Georg seinen Platz an und zog sich dann demonstrativ-langsam seine Handschuhe vorschriftsmäßig an. Georg tat es ihm nach.


Belustigt stellte ich fest, dass die Handschuhe für Herrn Mete fast zu groß waren - hingegen bei Georg spannten sie ganz schön! Der HATTE aber auch Pranken!


Die beiden begannen ihr Werk.

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"Sie können das später vielleicht kosmetisch-chirurgisch versorgen lassen. Aber alle Narben werden wohl nicht wegzukriegen sein..."


Doktor Mete zog seine Handschuhe aus und warf sie in den Abwurf unten an dem Wagen. Darin war auch alles andere verschwunden; die schwarzen, weggeschnittenen Haut- und Gewebefetzen wie auch die Tupfer und Kompressen, die er verwendet hatte.


"Wir werden jetzt Ihr Bein sauber verbinden, denn Sie müssen mal in Bewegung kommen. Also, Sie dürfen jetzt in den Rollstuhl. Erholt haben sie sich, die Krise ist vorüber, und das Gift baut sich schneller ganz ab wenn Sie sich bewegen. Schwester Gülsüm macht Ihnen gleich einen schönen und recht festen Verband; wir wollen gleichzeitig alles sauber haben aber auch einen Druck, eine kleine Kompression erreichen. Die Zehen lassen wir frei und Ihr Bein wird hochgelagert; Sie achten bitte selbst mit darauf, ob die Zehen so schön rosig bleiben wie jetzt, okay?"


Ich nickte pflichtschuldigst - und freute mich. Das hörte sich ja gut an! In einen Rollstuhl! Was meine Arme und Hände wohl dazu sagen würden? Ich wedelte in den Handgelenken und bog und dehnte dann jeden einzelnen Finger mit der jeweils anderen Hand in alle Richtungen.


Es schien wirklich alles in Ordnung zu sein! Nur noch ganz leicht ein wie eingeschlafenes Gefühl.

"Und ichch schiebe dichch durch die Gänge!" jubelte Georg verhalten, aber unternehmend und nahm meine Hand.

"ICH soll mich doch bewegen! Oder?"


Aber natürlich lächelte ich ihn dankbar an.


"Außerdem werde ich SO wie jetzt ganz bestimmt nicht unter die Leute gehen! Ich bin ja nicht mal gekämmt...!"

Schwester Gülsüm kam und legte schnell und sicher erst einige hellgelb aussehende, fettgetränkte, dünne Tüllstoffstücke großflächig über meinen Unterschenkel bis alles bedeckt war. Dann kam der Wundverband und hernach fabrizierte sie mit mehreren elastischen Binden einen Kompressionsverband. Der sah recht schön aus!


Vor allem gegen den Anblick vorher...

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Im Hof des Krankenhauses kam uns Pesmy entgegen und Georg schob mich schneller, auf ihn zu.


"Hallo! Na, da sind ja nochmals alle gutgegangen!" lachte der Englishman und zeigte auf mein Bein, dass auf dem verstellbaren Fußteil hochgelagert war.


"Mistress Yüküsükel ist gewesen auch schon hier, heute Morgen viel früh. Hat Geschenke gebracht, ist üblich in dieses Ländereien hier."

Also doch! Songül war da gewesen. Und Geschenke?


Na, da musste ich mal gucken, wie ich das ausgleichen würde.

"Herr Jeremek lässt sagen Grüße und er kommen will nächste Woche nochmal. War viel beeindruckt von Zisterne und dir, Rena-Dear!"


Ich habe sicher überrascht geguckt.


"Na, klar doch! Hat erstmals gesehen Behindertin bei solches Arbeit und nicht vorstellen können so etwas sich selber bis dahin."


Er tätschelte meine Schulter.

"Apropos: Was wird eigentlich jetzt mit der Grabung? Weil ich ausfalle, geraten wir doch ziemlich ins Hintertreffen, nicht?"

Da mischte sich Georg ein - englisch, wegen Pesmy: "Neinnein, wir machen fast genauso weiter. ICH kann ja heute hier weg. Und DU - also, für dich heben wir alles auf, ist doch klar. In den Stahlschränken ist viel Platz. Wird doch Zeit, dass du mal wieder was arbeitest, oder? Unter das Sonnensegel weht der Staub nicht so sehr hin, da wirst du, wenn du hier raus darfst, schön sauber sitzen können und - so leid mir's tut - alles bewerten, beschreiben und vorab-archivieren können. Sonst darfst du ganz einfach nichts - die Löcher sind tabu! Zu den Nachuntersuchungen und Verbandwechseln und dergleichen fahren wir dich jeweils hierher. Und bei Yüküsükels sind wir doch perfekt aufgehoben!"

"Genau!" meldete sich Pesmy wieder, "ich habe schon mit Songül gesprochen. Wenn es der Arzt nicht anders tut, bekommst du das Bett von einer ihrer Töchter - damit du nicht auf dein Feldbett musst."

Das wollte ich aber natürlich doch auch nicht - nur keine Umstände - aber wenn, dann auch gut. Hauptsache, wieder an die Arbeit...und bei Georg sein!!

Bis zum frühen Nachmittag alberten wir noch viel herum, tranken Apfeltee und Ayran in einem winzigen Laden nahe dem Empfang des kleinen Krankenhauses. Der Rollstuhl und meine Hände waren kein Problem - ich genoss es aber auch, mich dann und wann von Georg schieben zu lassen.


Das mag ich zwar normalerweise ÜBERHAUPT NICHT, aber heute machte ich einmal eine Ausnahme. Und ein wohliges Gefühl, und ja, auch ein sehr dankbares Gefühl war es allemal, dass dieses Herumschieben jetzt nicht 'ernst' war, sondern dass es eben auch anders gehen würde...DAS war ja nochmal gut gegangen, wirklich! Dabei hatte ich doch schon in die totale Bewegungsunfähigkeit hineingerochen sozusagen!


Heimlich sandte ich Gebet auf Gebet gen Himmel.

Der Verband Georgs wurde noch einmal erneuert und wir erkundigten uns eingehend, wann auch ich hier entlassen werden könnte.


Dann verließen mich die beiden Herren mit herzlichsten Verabschiedungen.

So.


Da saß ich nun in diesem eigentlich unpassenden Rolli und war allein.

Doch keine Zeit für weitere, vielleicht doch noch trübe Gedanken - denn um die Ecke guckte Songüls liebes Gesicht und grinste spitzbübisch.


Mit ihren beiden ältesten Töchtern kam sie mich besuchen!


Außerdem hatte sie eine fast lebensgefährliche Menge Schafskäse und Brot mitgebracht; mit einem Teil davon versorgte sie zunächst das Krankenhauspersonal – das war hierzuland so üblich - und dann schob sie mich in mein Zimmer; die eine Tochter schleppte die große Tasche mit den restlichen Alimenten, die für mich bestimmt waren.

"Schafskäse ist gesund!" gestikulierte sie mir - na, sie musste mich nicht lange nötigen!

…………..

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Renate Berlin (Teil 12)

Zwar hasse ich diese mühselige Kleinarbeit nicht - aber eben mühselig war sie DOCH.


Es musste aber getan werden und es gehört ja auch dazu.

So saß ich also schon seit gut zwei Wochen Tag für Tag unter dem Sonnensegel und pinselte, skizzierte, trug in die Lagekarte ein, schickte Mustafas Enkel Hassan zum vorsichtigen Waschen noch beschmutzter Kleinteile, draußen am Brauchwasserbehälter...


und wurde gut versorgt von Pesmy und Georg; von allen hier.


Auch meinen Rollstuhl hatte ich wieder.


Der war zwar unrettbar verzogen, dadurch nicht mehr faltbar und hatte jetzt einen Fahrradreifen ohne zusätzlichen Handring, aber das machte mir - noch - nichts aus. Denn hier, in solchem Gelände, fahre ich mich ohnehin mit den Händen direkt an den Rädern. Das geht so besser.


Pesmy als Grabungsleiter hatte aber bereits mit seinem Institut telefoniert; die Kosten für einen neuen Rollstuhl würden übernommen werden. Soweit ich informiert war, würde ich wohl demnächst per Luftfracht aus Tempelhof meinen neuen, baugleichen Rolli geschickt bekommen.


Mein Sanitätshaus hatte ja meine genauen Maße und sonst alles, was dazu nötig war - also die Maße des Rollis und die Art des Sitzkissens und dergleichen.

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Kein Zweifel!


Mittlerweile war ich mir sicher: Das alles hier war zumindest zum größten Teil assyrisch.


In deren Spätzeit waren sie ja wohl bis hierher gekommen, so zumindest bisher die vagen Vermutungen. NUN hatten wir hier vielleicht den Beweis dafür! Also handelte es sich tatsächlich um eine bedeutendere Fundstelle.


Beim Eintragen in Pesmys Karte war ich nach und nach drauf gekommen, eigentlich ein Treppenwitz der Weltgeschichte wenn man so will:


Ich markierte da die Daten der vielen Abfallgruben, die wir gefunden hatten. Und siehe da, um ein Areal - in dem auch die große Zisterne lag, etwa 75 auf 110 Meter groß - gruppierten sich die Abfallgruben in schönster Regelmäßigkeit alle 18 Meter, in mehreren Reihen. So genau wie wenn das jemand vorher ausgemessen hätte.


In meinem Hinterkopf fand ich eine passende Schublade: Richtig, der Schreiber Alexanders vermerkte in seinen vielen Berichten auch, dass der große Feldherr bass erstaunt darüber gewesen sei, dass die Assyrer pro Mannschaftszelt einen Unratplatz angelegt hatten - und nicht, wie allgemein üblich, eine oder wenige größere zentrale Sammel-Latrinen...


Hm.


Die Kackhaufen von vorchristlichen Soldaten als Wegweiser, hihihi!!


Die Beifunde passten ebenfalls dazu.


Wir hatten es hier also mit einem assyrischen Heerlager zu tun.


Ob aber das innere Areal auch in diesen Kontext gehörte? Wozu sollte ein doch eher ‚kurzes’ Heerlager eine aufwändige Zisterne im Zentrum angelegt haben?

Nachdenklich schob ich mich zu den Stahlschränken hinüber. Daneben, unter einem nassen Tuch, standen unsere Kühltaschen; von Songül heute Morgen liebevoll aufgefüllt. Ich holte mir ein paar Gebäckstücke heraus und etwas Ayran. Diese Kleingebäcke waren die Wucht! Kalt schmecken sie übrigens am Besten. Wie Mini-Minipizzas, weniger als handtellergroß, belegt mit Lauch und einer nun geronnenen Masse aus Sahne, Fett, Gemüsen und Gewürzen. Letztere sorgten auch dafür, dass es eben nicht schmeckte wie der bei uns bekannte Zwiebelkuchen - noch heute aber bin ich der Überzeugung, dass alle diese herzhaften Gebäcke, die in unserem Kulturkreis bekannt sind, ursprünglich auf die Turkvölker und Osmanen zurückgehen. Genauso wie die gefüllten Teigtaschen, egal, wie sie irgendwo auch heißen mögen! Schließlich findet man noch heute bis hinein ins fernste Sibirien sehr ähnliche Gerichte…


Die Türken waren auch diesbezüglich nicht umsonst vor Wien gewesen!

Da ich hörte, dass Hassan vom Waschen zurückkam, nahm ich für ihn auch ein paar der kleinen Kuchen heraus, legte alles in meinen Schoß und schob mich wieder an meinen Tisch.


Erstmal eine kleine Pause!


Hassan verteilte die noch feuchtglänzenden Kleinteile vor mir und zeigte stolz lächelnd auf ein jetzt schön schimmerndes Figürchen. Wohl aus Jaspis.


Hörner, vier Flügel – einer davon recht abgestoßen, erhobene Arme: klar, Pazuzu, der Krankheits- und Heilkundedämon aus dem assyrischen Kulturkreis.


Der fünfzehnjährige, schlaksige aber doch kräftige Junge war stolz auf sein recht gutes Schulenglisch und wie immer hörte er nun fasziniert meinen Erklärungen zu.


Jetzt, wegen der Pazuzu-Figurette, eben über das Krankheitsverständnis der Völker des antiken Nahen Ostens


Er wollte, wie sein Onkel Mustafa und wie Emre, natürlich später genau das machen was diese taten: Mit Archäologen Grabungen durchführen wenn Saison war.


Ich aber sah ihn eher als Studenten bei mir in Berlin oder bei Pesmy in London oder anderswo - und später würde ER diese Grabungen SELBER leiten und durchführen.


Mit dieser Einstellung, die ich verschiedentlich auch geäußert hatte, hatte ich bei Herrn Jeremek natürlich jetzt einen Stein im Brett. Denn wie alle stolzen Morgenländer quälte sich auch er, der Beamte der türkischen Altertümerverwaltung, an dem Umstand, dass westliche Wissenschaftler IHRE eigenen, alten Kulturen entdecken.


Ich erinnerte mich da an meinen guten Bekannten, Dr. Zahi Hawass, den bekannten Chef der ägyptischen Altertümerverwaltung. Wild gestikulierend, wie es seine Art ist, war er seinerzeit neben mir hergetappt, als ich mich durch den halbwegs festgetretenen Sand neben der Sphinx stemmte, und hatte mir auseinandergesetzt, wie froh er war, dass jetzt bald endlich eine ganze Generation EIGENER, nämlich ägyptischer Archäologen die Universitäten verlassen würden und nun zur Verfügung stünden.


Herr Jeremek dachte ganz ähnlich - nur gab es noch keine auch nur halbwegs hinreichende Anzahl türkischer Archäologen.

Noch!

Wenn die Grabungstätigkeiten nicht gar so staubig waren und der Wind günstig stand machte sich Hassan einen Spaß daraus, mich auf dem Grabungsfeld herum zu schieben. Ich hätte das durchaus auch selber gekonnt, aber er war nun mal mein stolzes Faktotum und das ließ er sich nicht nehmen.


Und so zog er jetzt, nach unserer kleinen Pause, eine schmale Plane über den Tisch mit dem Kleinkram, dem Laptop und meinen Papieren, beschwerte sie an den Rändern mit ein paar Ziegelsteinen, zog mir den großen Müllsack, in dem meine Beine steckten und der diese vor Staub schützte, strammer und reichte mir die Mütze.


Darauf bestand er. Wegen der Sonne, behauptete er. Eigentlich hätte ich ja auch einen eigenen Hut gehabt; Marke Dachdeckerbedarf. Nein, es musste DIESE Kappe sein; ihm war es um das Emblem von Fenerbahce, dem Istanbuler Fußballclub, zu tun, welches auf der Vorderseite prangte! DAS musste natürlich sein! Nun gut. Zu was ich mich nicht alles hergab!


Auch auf seiner Mütze war dieses Emblem zu sehen.


Und wenn er nicht über unsere Arbeit sprach oder über seine Familie, erzählte er mit leuchtenden Augen von Fußball und Christoph Daum und Meisterschaft und und und.


Während er mit mir über die getrampelten Wege zwischen den Gräben und Löchern rumpelte fragte er jetzt aber weiter nach Pazuzu, Ischtar und diesen ganzen Dingen.


Ich glaube, ich kann ganz gut erklären - vielleicht sollte ich doch eine Professur anstreben? Pesmy laberte ja diesbezüglich ebenfalls schon seit geraumer Zeit auf mich ein.

Von weitem winkte Georg vom Zisternenhügel herab - fast im Schattenriss, und schwenkte seinen breitkrempigen Hut. Sein Gesicht konnte ich nicht erkennen, wohl aber an der Armbewegung, dass er mir einen Luftkuss schickte.


Alter, scheuer Romantiker!


Mit hüpfendem Herzen winkte ich zurück.


Am Liebsten wäre ich dahin gerollt, aber dort staubte es am allermeisten; unten im Graben unter Georg sah ich die fliegenden Hacken von Mustafas Leuten und auch Pesmy hackte dort bestimmt mit - die mussten sich ihrer Sache ja sehr sicher sein! Normalerweise lassen wir die Hacken ja stehen bei unserer Arbeit und müssen filigraner und vorsichtiger zu Werke gehen.


Ich war sehr gespannt, was die beiden mir nachher berichten und bringen würden.

Ich bedeutete Hassan, dass ich wieder zurückwollte. Da lag doch noch viel Arbeit und ich wollte heute noch einiges geschafft kriegen. Denn morgen würde ich wieder zu Doktor Mete müssen, zur Nachuntersuchung und zum Verbandwechsel und geriet mit meiner Arbeit hier wieder ins Hintertreffen

Mein Bein sah noch immer verheerend aus - für meine Begriffe - aber der Doktor war dagegen immer hochzufrieden gewesen bisher. Immer brachte mich an den Verbandwechseltagen Georg morgens in das kleine Krankenhaus, fuhr dann zur Grabung und holte mich abends wieder ab. Jedesmal erklärte ihm Doktor Mete dann, dass ich es ihm, Georg, zu verdanken hätte..., dass er so richtig reagiert habe und so weiter.


Richtig hartnäckig.


Georg nahm das wortlos hin, kaum dass er einmal nickte - ich hoffte aber dennoch, dass ihm das gut tat!

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"Also, sehe Sie, gnädige Frau" - - wenn er das schreckliche 'gnädige Frau' doch weggelassen hätte, der gute Doktor Mete! - - "also, sehe Sie! Schön alles rosich und ganz frisch hier, zwische Schnitte und so. Du sehe?"


Er wies mit der Pinzette, mit der er eben mittels Tupfer die Salbenreste entfernt hatte, auf die tatsächlich gesund aussehende Haut zwischen den Schnitten und den rundlichen Läsionen, wo die Nekrosen entfernt worden waren. Weißlich-gelbliche Fibrinbeläge bedeckten die Stellen, die noch besonderer Behandlung bedurften, an den meisten anderen hatte sich schon dünne, frische Haut gebildet. Die Einschnitte zur Entlastung waren in länglichen, recht breiten, hellen Narben verheilt.


"Wenn Sie wieder sind daheim und ist verheilt alles, Sie könne gehe zu Doktor dort. Schneide wieder auf, näht ganz viel fein, und dann das ist nit mehr so breit. Lifting für Bein!"


Na, dennoch würde mein Bein arg zerrupft aussehen. Ich nahm es aber einfach hin; das war nun eben so.


Ohnehin trage ich meist Leggins, Jeans oder andere Hosen, wenn es sein muss auch Röcke. Die dann aber entsprechend lang.


Und Georg? Hoffentlich machten IHM meine vermackten Beine nichts aus!


Das musste ich auf mich zukommen lassen.

Bisher jedenfalls war er völlig normal, ja sogar eigentlich überfürsorglich zu mir.


Ich MAG es aber eben gar nicht, wenn man mich einfach so herumschiebt. Es kommt mir dann vor, wie wenn über mich einfach so entschieden wird. So nach dem Motto: Es ist doch zu deinem Besten, was fragst du da noch?


Oh je, und er tat etwas, was ich hasse wie die Pest: Er kam oft überraschend von hinten, packte meinen Rolli an den Handgriffen und fing an zu schieben.


Wer so was macht, kann normalerweise mit einer kostenlosen Demonstration der Furien rechnen, mich also wirklich in Rage erleben!!


Bei Georg verbiss ich mir das noch.


Das wollte ich ihm behutsam beibringen - aber nicht jetzt.

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Kamillentee habe ich eigentlich nie gemocht.


Da fühlte ich mich immer erst recht krank, wenn ich dieses bäberliche Zeug als Kind trinken musste! Wie eingeschlafene Füße! Brrrrr!!


Jetzt aber lag ich sogar drin.


In Kamillentee!


Songül hatte mit Doktor Mete gesprochen, ich wusste davon gar nichts.


Heute Abend nun, als wir wieder verstaubt ohne Ende von der Grabung zurückkamen, überraschte sie mich nach einem kurzen, abendlichen Imbiss mit einem herrlich warmen Bad. In Kamillentee!


Das soll ja die Heilung durchaus fördern - und ich genoss es über alle Maßen! Das lange vermisste Gefühl, Wasser überall auf meiner Haut; nicht wie die ganze Zeit vorsichtig und das Bein in Plastikmülltüten verpackt duschen - hach, herrlich!!

Gerade war Songül, die mir geholfen hatte, aus dem Bad gegangen. Ich war allein und fühlte mich sehr, sehr wohl; prustete Blubberbläschen ins Wasser und tauchte unter. Hach, wie schön!


Ich achtete darauf, dass meine Beine nicht gar zu sehr aneinanderschubberten - nicht, dass etwas aufreißen oder aufreiben würde!


Immer wieder tauchte ich prustend unter und wieder auf, spielte herum wie ein kleines Mädchen. Fehlte nur noch das Quietsche-Entchen...


Es wunderte mich nicht, dass mir dann und wann sogar ein kleiner Jauchzer entfuhr.


Wie lange ich wohl die Luft anhalten könnte??


Das hatte ich ja schon lange nicht mehr ausprobiert!


Also hechelte ich, atmete tief ein, tauchte dann ab und begann zu zählen.

Lange.


37 war bisher mein Rekord; das war aber schon lang her…jetzt war ich sogar schon bei 40 und noch lange nicht fertig - - -

Ein Geräusch außerhalb der Wanne lenkte mich ab und ich tauchte auf, rieb mir die Augen - da stand Georg, leichenblass, ein Tablett in der Hand.


Die tulpenförmig geschwungenen, kleinen Gläser mit Apfeltee auf dem Tablett klirrten etwas aneinander, weil seine Hände zitterten.


"Oje!" sagte ich erschrocken und bedauernd. "Du hast sicher gedacht...?"


Er nickte und setzte sich dann aufatmend auf meinen Rollstuhl neben der Badewanne. Die Gläser hörten auf zu klirren.


In seinem Gesicht, das langsam wieder Farbe bekam, arbeitete es.


"Ja...ja...also, ichch hab wirklichch gedacht, jetzt ischt sie wirklichch ertrunkchen...!"


Ich schüttelte leicht den Kopf und griff nach ihm.


Noch etwas abwesend reichte er mir eines der Gläser.


"Ach Renate! Ichch muss dir was sagen..."

Er sagte.


Oh JA!


Von damals am Tejo.


Der wunderbare Abend bei Anna-Lucia.


Wo er erkannte, dass ich mit meinen Augen wie zitterte, wenn ich ihn ansah - tat ich das??


Und wie ich das und dies gesagt und so und so gesagt hätte…und so und so geguckt hätte…


Und wie ich aussah, wenn ich vor ihm her zum Bahnhofschalter bin, um für uns Karten zu lösen…weil ich mich besser portugiesisch-brockenhaft ausdrücken könne als er…und er mich bewundert habe, weil mein Po und…meine Beine…und…naja…“ichch bin halt a Mann und du siehscht toll aus, oddr!? Gchanz bezaubernd…“


und dann darüber, wie er meinen Charakter so sehr habe schätzen lernen und

…dann der LKW und...


als ich wie tot da lag und er dachte, ich sei ertrunken und er habe mich zu spät herausgekriegt aus dem Auto.


Als er dann neben mir gesessen war, im Krankenwagen, als ich aufwachte. Als ich bemerkt hatte, dass etwas mit mir nicht stimmte und ich dann Himmel und Hölle zusammengeschrien hatte, weil ich meine Beine nicht mehr spüren konnte.


Als er sich dann dafür verantwortlich fühlte, weil er so sehr an mir herumgezerrt hatte...


Und dann im Krankenhaus, in dem kleinen in Santarem, wo die Ärzte bedauernd die Köpfe schüttelten; dann in dem großen in Lissabon, wo die Ärzte auch mit den Köpfen schüttelten. Dann in Berlin, wohin mich der ADAC zurückgeflogen hatte - Georg war ein paar Tage später mit dem Auto nachgekommen - wo er sich schon nicht mehr zu mir getraut hatte.


Mit meinem Bruder habe er damals gesprochen. Lange.


Aber zu mir ins Krankenhaus - das habe er nicht geschafft. Die ganze Woche nicht, wo er da war.


Und seine ganzen Nöte seither.


Alles.


Und dann der Schlangenbiss. Und dass er da NICHT WIEDER versagen wollte!


Und jetzt eben gerade, als er mich wie ertrunken in der Badewanne sehen musste...

Sein Tee war sicher kalt geworden. Er trank ihn jetzt trotzdem in einem langen Zug aus.


Eigentlich hätte ich nicht so lange im Wasser bleiben sollen; die Haut sollte ja doch nicht aufweichen.


Ich brachte es aber nicht übers Herz, ihn zu unterbrechen. Und jetzt gerade konnte ich doch auch nicht...jedenfalls blieb ich ruhig liegen.


Sowieso war mir jetzt nach was anderem!

"Du hast nicht versagt. Damals nicht und heute auch nicht!" sagte ich, so sanft ich konnte und streichelte seine Hand.


"Ich bin nicht wegen dir in diesem Stuhl da gelandet. Wir sind von der Brücke gefallen, Mann! Da ist es passiert, schon beim Aufprall auf den Flussgrund. Ich habs doch genau gespürt. Es ist NICHT wegen Deinem Gezerre an mir passiert. Schon früher, hörst du?!? Und danach wäre ich todsicher ertrunken ohne dich!" Nachdrücklich sah ich ihm in die Augen.


"Mit der Schlange genauso! Ohne dein Stauen und Aufschneiden und ohne Pesmys Beatmungsbeutel und Kenntnisse wäre ich draufgegangen! Nimm es doch nun endlich so hin, wie es ist:


Du bist gut für mich - und nicht das Gegenteil!!"

Er guckte angestrengt aus dem Milchglasfenster.

"Na??"


Meine Aufforderung klang etwas kecker, als ich es gewollt hatte.

Er schluckte.


"Und...und wie...und wie willscht du, dass es jetzt weitergäht?"


fragte er leise und belegt.


"Das hat mit mir nur bedingt was zu tun!" versetzte ich. "Wie willst DU, dass es weitergeht??"

"Sag erscht du!"

"Nein, DU!!"


Ich bestand darauf.

"Hm." machte Georg, sagte aber weiter nichts. Guckte mich nur an.


Lange.

Also erbarmte ich mich und nahm mein Herz in beide Hände.


So zärtlich ich konnte - und das wollte ich doch auch! - suchte ich seine Berührung und zog ihn zu mir hinunter.


Ganz nah war er jetzt, meine beiden Hände umklammerten sein Gesicht links und rechts und ich sagte ihm sanft aber nachdrücklich, was ich ihm zu sagen hatte:


"Ich liebe dich. Du bist mein Held. Ich will dich heiraten und mit dir zusammen graben und mit dir zusammen leben. Und JETZT? Jetzt will ich, dass du mich küsst und berührst...ganz lange.


Aber erst nachher!


Zuallererst muss ich jetzt mal aus dieser Wanne heraus!


Also, mein Prinz: Verlasse mein Gefährt und stelle dich so hin -" damit rückte ich ihn, der recht abwesend wirkte, zurecht - "damit ich mich besser festhalten kann!"

Georg saß auf dem Wannenrand, bis ich mein Bein vorsichtig und ausgiebig abgetrocknet und sogar trockengefönt hatte.


Verstohlen guckte ich manchmal zu ihm; er spielte fahrig mit seinen Daumen und blinzelte vor sich hin.


Als ich den Fön abschaltete, sah er auf.

"Äh...ja.


Ist gut.


Interessiert dichch noch, was ichch sagen will wie es weitergäht?"

"Nein.


Nein, das interessiert mich nicht." beschied ich ihm grinsend und begann, mich anzuziehen.

Er lächelte breit.

"Du bischt viel zu schön für michch!" seufzte er bewundernd, während ich meine Haare kämmte.


Oh, das gefiel mir. Sogar sehr!

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Heute

Christoph Daum ist nicht mehr Trainer in Istanbul.


Herr Jeremek sitzt im Ministerium in Ankara.


Yüküsükels sind erste Wahl für alle Archäologenteams, die noch auf Jahre hinaus an unserer Grabung zu tun haben werden - es erwies sich als belagerte Stadt; und drum herum das Heerlager. Noch ist nicht heraus, wem die kleine Stadt zuzurechnen ist. Die Spezialisten kümmern sich nun darum und Mustafa hat gut zu tun dabei.


Yüküsükels haben neben ihrem Haus, dort wo unser Zelt stand, angebaut für die Archäologenteams und die helfenden Studenten.


Doktor Mete praktiziert weiter in seinem kleinen Krankenhaus.


Gerade halte ich einen Brief von Pesmy in Händen, adressiert an Renate Zurbriggen-Berlin:


"Rena-Dear! Ihr unbedingt dabei sein. Nahe bei der Höhle in Sahara, wo ist der „Englische Patient“ gewesen. Mit Malereien, Du weißt. Nahe bei dem ist freigeweht jetzt ein unbekannte Gemäuer.


In zwei Monate geht los! Schreib zurück oder maile. Anbei Landkarte und weiteres Information.


Pemperton-Smythe"


Das würde ja gerade so passen! Denn im nächsten Jahr werde ich meine Professur hier antreten, da kann ich diese Grabung noch machen. Wobei mir versprochen wurde, dass ich trotz Lehrtätigkeit weiter oft genug vor Ort sein kann. Hoffentlich!


Da ich als Professorin etwas gediegener angezogen sein muss als bisher bin ich gerade damit beschäftigt, meine Garderobe diesbezüglich nach und nach zu ergänzen...mutig, mutig; finde ich manchmal selber! Aber Georg ist meistens dabei und besteht darauf!


Oft kurze, auf der Taille aufsitzende Jacken. Nix mehr mit Schlabberpullies. Und Röcke. Kürzer als früher. Dafür aber blickdichte Strumpfhosen. Puh! Hätte ich auch nicht gedacht, dass ich sowas mal...


Aber meistens immer noch Hosen.


Und natürlich habe ich die weißen Schuhe doch noch mal angezogen. Sogar öfter.


Vor allem aber bei unserer Hochzeit.


Pesmy und Agnes waren natürlich Trauzeugen.


Auf die Professur freue ich mich echt schon! Vor allem, da Hassan sich tatsächlich einschreiben wird, übernächstes Jahr zwar erst, aber dennoch. Momentan ist er ja noch zu jung und noch nicht ganz mit der Oberschule fertig. Aber DANN ist er fällig!


Zeit für Kinder wird sich dann auch genommen; Georg will einen ganzen Stall voll und ich eigentlich auch...naja, mit der Professur wird sich das ja gut machen. Nur die Grabungen werden dann eine Zeitlang warten müssen...im Zeitalter des Worldwideweb werde ich aber dann täglich doch irgendwie dabeisein können!


Immerhin wird Georg ja dabei sein.


Ich höre ihn in der Küche werkeln.

Georg kommt in mein, in unser Büro. Ich gebe ihm Pesmys Brief, er stellt das Tablett mit Apfeltee auf den Schreibtisch und liest.


"Sähr gutt, sähr gutt! Du kchönntescht ja auch einmal wieder etwas arbeiten, oddr??!"

E N D E

Kommentare


dryver
dabei seit: Apr '05
Kommentare: 255
schrieb am 11.11.2016:
»Wunderbar geschriebene Fortsetzung«

koelnfan
dabei seit: Apr '02
Kommentare: 16
schrieb am 14.11.2016:
»Sehr anspruchsvolle und authentische Geschichte - vermutlich sogar autobiografisch. Meine Hochachtung.
Womit ich Probleme hatte, war die Textformatierung. Ich weiß allerdings nicht, ob dies dem Verfasser oder der Formatänderung bei der Einstellung ins Netz zuzuschreiben ist.
Trotzdem eine sehr anrührende Geschichte. Vielen Dank.«

hoedur
dabei seit: Apr '06
Kommentare: 87
hoedur
schrieb am 17.11.2016:
»so gar nicht hier her passend und dafür umso schöner! Und wenn die Geschichte wirklich (teilweise?) biografisch ist, dann Euch beiden von Herzen alles Gute und viele Kinder!
Ich bin mir sicher sie IST biografisch, denn SO kann nur das Leben erzählen... wunderbar! Danke...«

tomy27
dabei seit: Jan '04
Kommentare: 115
schrieb am 17.11.2016:
»Nach dem ersten Teil der Geschichte war noch nicht klar in welche Richtung sich die Geschichte entwickeln wird und ich war echt gespannt auf den zweiten Teil. Ah, es wurde eine klassische Liebesgeschichte bei der die Protagonistin einiges durchleiden muss aber am Ende steht dann.... Nein, ich schreibe hier nicht weiter.
Die Handlung ist richtig kitschig, eigentlich zu kitschig, aber die Geschichte ist einfach nur gut geschrieben und gehört daher für mich zu den besten auf Sevac.
Ach ja, Sex und Erotik kommen in der Geschichte nicht wirklich vor, dafür aber jede Menge Gefühle. Wie soll man da Punkte für die Rubrik Sex/Erotik vergeben ohne der Geschichte Unrecht zu tun?
Zum Schluss noch eine persönliche Anmerkung. Ich bin selber behindert und finde es wirklich gut wie die Protagonistin in der Geschichte dargestellt wird, als selbstbewußte Frau mit Selbstzweifeln aber ohne Selbstmitleid und vorallem mit ganz normalen Gefühlen.«


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