Sonnenparabel
von -r-e-f-l-e-x-x-x-
(Die Frage, DIE FRAGE, die mir so schwer über die Lippen kommen würde, dass
ich glaubte, sie niemals stellen zu können war ausgesprochen.)
Inzwischen war mir jede Faser des Seils vertraut.
Leise nehme ich ihre Schritte hinter mir wahr. Ein sanfter Hauch streicht
meinen Hals.
Mein Kopf rollt wie ferngesteuert über die Schulter in den Nacken, wo sich
die kristallenen Blicke treffen. Ihr sonst im Alltag oft kontrolliertes
Pokerface wirft mir ihre geöffnete Seele entgegen. Wir sehen uns bis auf den
Grund.
Vier Augen, voneinander gebannt- auch Augen können angespannt horchen,
Neugier... Worte scheinen unmöglich.
Die Bewegung auf sie zu macht sich in meiner Brust als brüllender Schmerz
bemerkbar.
Aber nur einen Moment, dann empfange ich süchtig sein Echo. Als ich bebend
mit einem heiser-tiefen Kehllaut ausatme nutzt sie den Augenblick -ein
flüchtiges Lächeln, ein Kuss... ein Atmen ineinander.
Die Gewissheit, dass sie sich an mir auftankt, erzeugt eine idiotische
Heiterkeit in mir... ihre Lippen lösen sich von mir, das Kichern bricht
sich Bahn, ich beginne zu ahnen, wie wenig Wahnsinn beherrschbar ist, auch
wenn man ihn als solchen erkannt hat..
"Wasser?"
"Ja"
"Aber immer langsam... Schluck für Schluck"
Der schelmische Klang ihrer Stimme verrät ihre gezügelte Genussucht. Sie
wendet sich kurz ab... wieder ein Kuss, ich spüre etwas Wasser in meine
Kehle rinnen. Lockend züngelt sie.
Wieder will ich ihr folgen... aber diesmal fängt sie mich ab, indem sie
einen Finger auf den Mund legt.
"Pssssssss..., du musst dich schonen, weil..."
Sie geht zur Wanduhr, dem guten alten Erbstück, das diesen, unseren Abend
wie ein Metronom mit seinem hypnotischen Klang untermalt.
" ...wäre doch wirklich schade, wenn Sie stehen bliebe, gell? Schau doch..."
Wie zum Beweis ihrer Besorgnis öffnet sie mit einem leisen, fast unhörbar
hohen Ton die kleine Eichentür mit dem Glasfenster. Tatsächlich würde sich
ein Aufziehen lohnen.
"Wenn man nicht alles selbst macht."
Sie greift eines der Gewichte und wiegt und kippt es in der Hand... ich
höre das Bleigranulat.
Die Augenbraue verrät ihre Gedanken.
Mit einem Schmunzeln versucht sie sich an schwedischem Akzent.
"Entdecke die Möglichkeiten!" Das Ticken der Uhr verstummt.
"Hey, das ist nicht fair" Ich übe mich an gespielter Verzweiflung.
"Stimmt, gar nicht mein Stil, so was" Geräuschvoll zieht Sie die Uhr auf,
schließt die Tür, hält inne.
"Das hätte ich beinahe vergessen" Und stellt die Uhr zurück auf 23.50 Uhr.
Diese verfluchte Sommerzeit, jedes Jahr werde ich davon überrascht. Ihr
triumphierender Ausdruck erstickt jede Idee, eine echte Verzweiflung ergießt
sich in mir.
"Das schaff ich nicht... wirklich!"
"Du schaffst das nicht, OK. Aber wir werden es schaffen. Klar, das wird
hart, aber ich werde dir helfen."
Mit beiden Händen nimmt sie mein Gesicht, wir schauen uns in die Augen, in
mir bricht ein Sturm los, ihr Anblick verschwimmt, ich fließe über.
"Ja, lass es zu, mein lieber, lieber ...mein Starker" ...ihre Worte
überschlagen sich, durchmischt mit einem seltsamen euphorischen Lachen.
Ich dränge an sie, der Schmerz wieder da, aber nicht wirklich bei mir, weit
außerhalb meines Körpers nehme ich ihn wahr.
Aber nein, er ist in meinem Körper, - ich bin es, der sich entfernt.
Da meine Augen noch immer schwimmen, schließe ich sie und stelle mit einer
seltsamen Sorglosigkeit fest, dass ich nicht sagen kann, ob ich stehe,
sitze, fliege oder hänge.
Mit geschlossenen Liedern sehe ich sie, sehe mich.
Sehe die beiden senkrechten Schnitte in meiner Brust, den durchgespießten
Holzpflock, das gespannte, derbe Hanfseil.
Sehe den, von allen Ästen befreiten Stamm der Birke, die wir damals vor 8
Jahren pflanzten als wir zusammenzogen.
Sehe, wie er dem Boden entspringt und in einer Kurve auf mich zeigt.
Gleichgültig stelle ich fest, dass ich mich sehe, wie ich im Zimmer direkt
vor der weit geöffneten Terrassentür stehe.
Sehe, wie sie mir das, im Vollmondlicht leicht glitzernde salzige Gesicht
mit ihren Lippen trocknet und mit ihren Augen wieder benetzt.
Sehe, wie wir beide bebend nebeneinander stehen und ich ihren Küssen folge,
wie der Stamm sich weiter spannt.
Das Bild ist fort.
Ihre Schläfen pulsieren rot.
"Ja, ja ICH WILL... !!"
Ich habe noch die Kraft zu fragen.
"Warum?"
"Die Sommerzeit ist noch nicht vorüber!"
© -r-e-f-l-e-x-x- 2002
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