Dunkle Wolken über Landor (2 - Wolfsreiter)
von Why-Not
Episode 2 – Angriff der Wolfsreiter
Die Amazone
Es war bereits das dritte Mal, seit sie die Grenze passiert hatte, daß sie einer Patrouille ausweichen mußte. Da sie bemüht war, das sehr weiträumig zu tun, hatte sie auch noch keine Gelegenheit gehabt, diese Soldaten näher in Augenschein zu nehmen. Aber es schien hier regelrecht von ihnen zu wimmeln. Und da es nicht in ihrem Interesse war aufzufallen, setzte sie erneut zu einem Umweg an. So würde es schwierig werden, die Stadt Westhoven noch an diesem Tag zu erreichen. Sie hatte sich zwar schon gefreut, mal wieder eine Nacht in einem richtigen Bett zu verbringen, aber ihr Auftrag war zu wichtig, um aus solchen Gründen gefährdet zu werden. Wahrscheinlich würden die Soldaten zunächst gar keinen Verdacht schöpfen, daß sie mehr war, als eine gewöhnliche Reisende. Andererseits waren alleinreisende Frauen in diesen Zeiten aber schon ungewöhnlich genug. Und wenn die Soldaten dann auf die dumme Idee kämen, sich mit ihr vergnügen zu wollen, wäre sie endgültig gezwungen, ihre Tarnung aufzuheben. Dann eben noch eine Übernachtung im Wald, seufzte sie in Gedanken und zog ihren Umhang enger um die Schultern. Eigentlich war ihr der Umhang bei dem milden Klima zu warm, aber ihre Kleidung darunter war einfach zu aufsehenerregend. Sie begann sich zu fragen, ob es für den ersten Teil ihrer Mission nicht sowieso schon zu spät war. Die häufigen Patrouillen deuteten jedenfalls darauf hin. Denn, soweit sie das bis jetzt hatte erkennen können, waren diese Soldaten nicht aus Westhoven. Das konnte eigentlich nur bedeuten, daß der Angriff auf diese Stadt entweder unmittelbar bevorstand oder bereits stattgefunden hatte. Sie fluchte leise über das Unwetter, das ihre Anreise um Tage verzögert hatte. Das Wetter hatte sich vier Tage lang förmlich gegen sie verschworen und das Grenzland fast unpassierbar gemacht.
Nachdenklich fragte sie sich, ob bei den schweren Stürmen nachgeholfen worden war. Zumal sie wußte, daß Magier ab der vierten Stufe dazu in der Lage waren. Bei der Heftigkeit der Stürme müßten aber schon mehrere Magier zugange gewesen sein. Und es gab insgesamt nur 15 Magier, die sich auf der vierten oder einer höheren magischen Stufe befanden. Aber bisher kannte sie ohnehin nur wenige Magier persönlich. Und einigen, von denen sie bisher nur gehört hatte, wollte sie lieber nicht persönlich begegnen. Sithar, der zwielichtige Ratgeber von König Kronos von Manitien, war so einer. Über diesen Magier der Stufe 6 gab es nur furchterregende Geschichten. Trotz der Wärme fröstelnd dachte sie wieder an ihre Aufgabe. Egal, ob die Stürme jetzt natürlich entstanden oder magisch herbeibeschworen worden waren, so wie es aussah, kam sie für den ersten Teil ihrer Mission zu spät. Da allmählich die Dämmerung einsetzte, stieg sie schließlich von ihrem Pferd. Sie wollte nicht, daß es sich verletzt, wenn sie abseits der Wege im Halbdunkel durch den Wald ritt. Also ging sie voraus und führte das Pferd am Zügel hinter sich her. Auf diese Weise kam sie allerdings nur noch langsam voran. Und schließlich entschied sie, daß es Zeit für ihr Nachtlager wurde. Sie ging noch etwas weiter, hielt aber die ganze Zeit Ausschau nach einer geeigneten Stelle. Ideal wäre eine Senke, in der sie unbemerkt ein kleines Feuer anmachen könnte. Sie hatte im Laufe des Tages ein Rebhuhn erlegt und wollte es nicht roh essen müssen. Aber sie wollte auch nicht von den Patrouillen gesehen werden. Andererseits würden diese Soldaten sicher nicht noch mitten in der Nacht im Wald Streife laufen. Auch tagsüber waren sie immer beritten und nur auf den Wegen unterwegs gewesen. Sie würde das Feuer riskieren, entschied sie sich.
Als sie endlich eine geeignete Stelle gefunden hatte, brannte dort bereits ein Feuer. Innerlich fluchte sie heftig. Sie wollte nicht noch länger nach einem Nachtlager suchen. Zuerst band sie ihr Pferd an einen Baum, dann schlich sie sich langsam auf das Lagerfeuer zu. Es schien verlassen zu sein. Aber wer schichtet ein Feuer auf und verläßt es dann? Oder war es eine Falle? Aber für wen? Von ihr sollte eigentlich niemand etwas wissen. Katzengleich umrundete sie das Lagerfeuer zweimal in kleiner werdenden Kreisen, aber es war niemand zu sehen. Und sie konnte auch nichts entdecken, was auf eine Falle hinwies. So ging sie wieder zurück zu ihrem Pferd und band es los. Immer noch sehr wachsam ging sie jetzt direkt auf das Feuer zu. Sie versorgte ihr Pferd, setzte sich am Feuer nieder und begann, ihr Rebhuhn zuzubereiten. Dann hörte sie zwischen dem Knistern des Feuers das leise Knacken von Ästen. Es schien sich jemand anzuschleichen, war dabei allerdings nicht sonderlich geschickt. Vorsichtig griff sie mit einer Hand unter ihren Umhang und umschloß ihr Schwert. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Wer immer sich näherte, er stand jetzt bereits höchstens drei Meter hinter ihr. Wenn sie noch länger zögerte, war es womöglich zu spät. Blitzschnell sprang sie auf, drehte sich herum und zog ihr Schwert. Ihr Umhang fiel dabei neben dem Feuer auf die Erde.
Überraschende Gefährten
Irgendwann sollte er einmal lernen, mit Pfeil und Bogen umzugehen, dachte Eric, als er versuchte, mit einer kleinen Lanze den Hasen zu erlegen, dem er jetzt schon seit zehn Minuten auf den Fersen war. Hoffentlich war sein Lagerfeuer nicht heruntergebrannt, bis er sich etwas zum Grillen erlegt hatte. Zu allem übel wurde es allmählich dunkel und so gab Eric es schließlich verärgert auf, den Hasen noch zu erwischen. Mit knurrendem Magen machte er sich auf den Rückweg zu seinem Feuer. Immerhin hatte sich das Wetter heute wieder deutlich gebessert. Die letzten Tage schien es, als wolle die Welt untergehen. Solche Stürme hatte er noch nie erlebt. Und er fragte sich, ob da alles mit rechten Dingen zuging. Andererseits wußte er auch so gut wie nichts über die Magier, die hin und wieder in Legenden vorkamen, daher verwarf er den Gedanken wieder, ob das Unwetter durch Magie herbeigerufen sein könnte. Er hatte schon vor Tagen in Westhoven eingetroffen sein wollen, statt hier durch den Wald zu irren und vergeblich Hasen zu jagen. Lucius hatte ihm den Tip mit Westhoven gegeben. Da dieses Fürstentum in unmittelbarer Nähe zu den Ländern Kartun und Manitien lag, hatte es durch Handel einigen Wohlstand angehäuft. Besonders der Handel mit dem reichen Kartun war wohl sehr gewinnbringend. Gleichzeitig gab es dort natürlich auch große Probleme mit Räubern, so daß er sich mit dem Schutz von Handelskarawanen oder Handelsstationen einiges verdienen konnte. Westhoven war Lucius zufolge Fürstentum und Stadt in einem, wie eigentlich jedes Fürstentum in Landor. Der Machtbereich der kleinen Fürstentümer erstreckte sich selten über das direkte Umland der Stadt hinaus, in der die Fürsten residierten. Deswegen hatte es ihn auch sehr erstaunt, als er bereits vor zwei Tagen Patrouillen auf den Wegen nach Westhoven gesehen hatte. Und da er bei deren Anblick ein seltsam bedrohliches Gefühl gehabt hatte, war er lieber abseits der Wege unterwegs gewesen.
Als er sich mißmutig wieder seinem Lagerfeuer näherte, sah er, daß es sich bereits jemand an seinem Feuer gemütlich gemacht hatte. Es roch nach gebratenem Fleisch und Eric lief das Wasser im Munde zusammen. Gleichzeitig ärgerte er sich, das sich jemand, ohne zu fragen, seines Feuers bemächtigt hatte. So leise er konnte, näherte er sich der Gestalt. Sie sollte sich wenigstens etwas erschrecken, für diese Unhöflichkeit. Aber vielleicht war sie ja sogar gefährlich. Sicherheitshalber nahm er die kleine Lanze in die linke Hand und umschloß mit der rechten fest den Griff seines neuen Schwertes. Seit Lucius ihm gezeigt hatte, wie man damit umging, hatte es für ihn noch keine Gelegenheit gegeben, diese besondere Waffe einzusetzen. Allerdings wollte er sich auch nicht duellieren, bloß weil sich jemand unaufgefordert an sein Lagerfeuer gesetzt hatte. Als er näher kam, erkannte er verwundert, daß es eine Frau war, die sich seines Feuers bemächtigt hatte. Er konnte sie in ihrem Umhang zwar nur schemenhaft erkennen, aber die Art, wie sie sich die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, ließ kaum eine andere Deutung zu. Kaum war er in die Senke getreten, sprang sie blitzschnell auf und hatte zu Erics Verblüffung ein Schwert in der Hand. Ihr Umhang war zu Boden gefallen. Und sie stand vor ihm in einem Lederharness, der ihm erst einmal den Atem raubte. Er fragte sich, ob diese Bekleidung wohl irgendwo noch als angezogen durchgehen würde. Zwar waren ihre Scham und ihre Brüste bedeckt, doch schien die „Kleidung“ ihre Körperformen viel mehr zu betonen als zu verhüllen. Nackt hätte sie jedenfalls angezogener ausgesehen. Der Anblick war ihm allerdings keineswegs unangenehm. Es fiel ihm im Gegenteil schwer, seine Augen wieder loszureißen.
„Wenn du mich weiter so anstarrst, fallen dir noch die Augen aus den Höhlen“, riß sie ihn mit einem arrogant herablassenden Grinsen aus seiner Verblüffung. „Und erwarte nicht von mir, daß ich dir dann suchen helfe.“ Allmählich gewann er seine Fassung wieder. „Dafür, daß du dich ungefragt an mein Feuer gesetzt hast, hast du ein ziemlich loses Mundwerk. Oder glaubst du, daß es mich beeindruckt, wenn eine Dirne mit dem Schwert herumfuchtelt?“, gab er verärgert zurück. Bei der Anrede „Dirne“ verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck, und als er vom Herumfuchteln mit dem Schwert sprach, zuckte ihres in Richtung seiner Brust. Instinktiv schlug er es mit seiner Waffe zur Seite und wirbelte herum und hinter sie, wie er es von Lucius gelernt hatte. Seine Klinge raste dabei wie von selbst auf ihren Rücken zu. Im letzten Moment entschärfte er diesen Angriff, da er nicht vorhatte, ihr ernsthafte Verletzungen zuzufügen. Statt dessen traf sein Schwert mit der Breitseite laut klatschend auf ihren Hintern. Im ersten Moment war sie von diesem Manöver so überrascht, daß sie sich nicht mehr rechtzeitig vor seinem Angriff in Sicherheit bringen konnte. Und der schmerzende Hintern machte sie wütend. Nach einigen, eher unkoordinierten Angriffen auf Eric hatte sie sich allerdings wieder unter Kontrolle. Und sie griff ihn nun so geschickt an, daß er das ganze Können aufbieten mußte, das Lucius ihm in letzter Zeit beigebracht hatte, um nicht seinerseits einige Male schmerzhaft mit ihrer Klinge Bekanntschaft zu machen. Beide legten es allerdings nicht darauf an, dem anderen ernsthafte Verletzungen zuzufügen. Und so umkreisten sie sich nach einiger Zeit lauernd, um eine Schwachstelle des Gegners zu erkennen und ihre Überlegenheit zu beweisen. Dabei bemerkten beide, daß sie einen gefährlichen Gegner vor sich hatten, der sich jedoch zurückhielt.
Als das Rebhuhn auf dem Feuer begann, leicht verbrannt zu riechen, meinte Eric schließlich, daß sie ihren Streit wohl besser begraben und sich gemeinsam dem Rebhuhn zuwenden sollten. „Zuerst nimmst du die Dirne zurück“, antwortete sie. „Da ich noch keine Dirne gesehen habe, die so wie du mit dem Schwert umgehen kann“, gab Eric grinsend zurück, „muß ich mich wohl getäuscht haben.“ Und er erfuhr, daß sie eine Amazone – also eine spezielle Kriegerin – war und Melissa hieß. In diesem Moment kamen drei Leute in die Senke gestürmt, zwei Frauen und ein Mann. Alle drei schauten sich gehetzt und panisch um. Hinter ihnen krachten einige Äste und sie rannten an dem Feuer vorbei auf die andere Seite der Senke. Kurzzeitig schienen sie nicht zu wissen, ob sie mehr Angst vor ihren Verfolgern oder vor Eric und Melissa haben sollten, die mit gezückten Waffen vor dem Feuer standen. Aber die Angst vor den Verfolgern war offensichtlich stärker. Dann brach etwas aus dem Unterholz heraus, was Eric zunächst nicht einordnen konnte. Erst dachte er, die Leute seien vor einem gefährlichen Tier geflüchtet, da er zunächst einen riesigen Wolf mit etwa einem Meter Schulterhöhe sah. Dann erkannte er allerdings, daß ein kleiner Reiter auf dem Wolf saß und einen Bogen in der Hand hatte. Wahrscheinlich wäre es in diesem Moment bereits um die Flüchtenden geschehen gewesen, wäre der Wolfsreiter nicht ebenfalls von dem Feuer und den beiden Kriegern mit gezückten Schwertern irritiert gewesen. Er schien unschlüssig zu sein, wen er zuerst töten solle. Dann entschied er sich für Eric, dem es gerade noch gelang, sich hinter den Baum zu werfen, hinter dem er auch seine Ausrüstung in einem Laubhaufen versteckt hatte. Zuerst zog Eric sein Schild aus dem Haufen, um sich gegen die Pfeile des Wolfsreiters schützen zu können. Dann nahm steckte er das neue Schwert weg und zog sein altes aus dem Versteck hervor. Ihm war aufgefallen, daß sowohl der Wolf als auch der Reiter eine ähnliche Panzerung zu haben schienen, wie er sie bereits bei dem Bergtroll gesehen hatte, mit dem er und vor allem Lucius nur unter Aufbietung aller Kräfte fertig geworden waren. Zwar wäre auch sein neues Schwert widerstandsfähig genug gewesen, die Panzerung zu durchschlagen, aber mit der älteren, schwereren Klinge konnte er kräftiger zuschlagen. Lucius’ Technik, die Waffe aus dem Handgelenk heraus so stark zu beschleunigen, daß es die gleiche Wirkung hatte, ging über seine eigenen Fähigkeiten noch immer deutlich hinaus.
Während Eric sich für diesen Gegner die geeigneten Waffen griff, brach ein weiterer Wolfsreiter durch das Unterholz und griff ohne zu zögern Melissa an. Auch sie war zwischenzeitlich zu ihrer Ausrüstung gesprintet, die sich noch bei ihrem Pferd befand und hatte zu einen langen Bogen nebst Pfeilen gegriffen, während ihr Schwert wieder im Gürtel steckte. Dann entfernte sie sich wieder etwas von ihrem Pferd, damit es nicht von einem Pfeil des Wolfsreiters getroffen wurde, der eigentlich für sie bestimmt war. Eric, der die Szene nur aus den Augenwinkeln verfolgte, da er seinerseits den Pfeilen des anderen Wolfsreiters ausweichen mußte, sah mit Unverständnis und Entsetzen, daß Melissa plötzlich ganz still stehen blieb und in aller Ruhe ihren Bogen spannte. Der Wolfsreiter kam unterdessen frontal auf sie zu gestürmt. Wie in Zeitlupe zielte sie und ließ einen Pfeil von der Sehne schnellen. Eric wollte ihr noch zurufen, daß die Panzerung des Reiters zu stark für ihre Pfeile wäre. Zu seiner Verblüffung stürzte der Reiter tödlich getroffen von dem Wolf. Melissas Pfeil hatte ihn genau durch eine Öffnung im Visier ins Auge getroffen. Im letzten Moment sprang Melissa hoch und zog sich an einem Ast aus der Reichweite des Wolfs. Eric wandte jetzt seine volle Aufmerksamkeit dem anderen Wolfsreiter zu, der inzwischen ebenfalls auf ihn zugestürzt kam. Während er mit seinem Schild einen weiteren Pfeil des Wolfsreiters abwehrte, holte er mit seinem großen Schwert weit aus und ließ es mit ganzer Kraft auf den Schädel des Wolfes krachen, der jetzt unmittelbar vor ihm sein großes Maul aufriß. Der Wolf brach unvermittelt zusammen und der Reiter schaffte es gerade noch, sich abzurollen, ohne unter seinem Reittier zu liegen zu kommen. Er zückte zwei mit einer Kette verbundene Doppeläxte und ließ sie über seinem Kopf kreisen, während er auf Eric zukam. Dann ließ er die eine Axt losfliegen, während er die andere fest in der Hand hielt. Eric hatte sich unter der Axt weggeduckt. Doch als die Kette ganz gespannt war, zuckte die Axt wieder zurück und riß eine Schramme in seinen Rücken. Laut fluchend griff Eric wieder zu seinem leichteren Schwert und stürmte auf den Reiter zu, der bereits erneut mit seiner seltsamen Waffe Schwung holte. Als er merkte, daß Eric ihn erreichen würde, bevor er seine Axt richtig einsetzen könnte, ließ er sie nur gegen dessen Schild krachen, während er versuchte, mit der zweiten Axt nach Erics Beinen zu schlagen. Bevor ihm das gelang, traf ihn Erics Klinge bereits tödlich. Jetzt wollte Eric sich dem verbliebenen Riesenwolf zuwenden, der noch unter dem Baum stand, auf den Melissa sich gerettet hatte. Doch in dem Moment ließ sie sich mit der Schwertklinge nach unten aus dem Baum direkt auf den Rücken des Wolfs fallen und rammte ihm die Klinge durch den Rücken ins Herz.
Nachdem die unmittelbare Gefahr vorüber war, schauten Eric und Melissa sich ihre Gegner genauer an. Die Reiter schienen Gnome oder ähnliche Wesen zu sein. Sie waren klein und – nachdem Eric ihnen den Helm mit Visier abgenommen hatte – abgrundtief häßlich. Und in dem Maße, in dem die Reiter zu klein waren, waren die Wölfe zu groß geraten. Auch ohne Pfeile verschießende, axtschwingende Reiter waren sie bereits gefährliche Raubtiere. Kopfschüttelnd wandten sich die beiden den Flüchtlingen zu, die noch immer völlig verängstigt und zusammengekauert am Rand der Senke saßen. Von ihnen erfuhren sie, daß die Wolfsreiter und weitere monströse Wesen vor drei Tagen Westhoven angegriffen und völlig zerstört hatten. Einige wenige Bewohner hatten fliehen können. Auch der Fürst von Westhoven, Willur, hatte sich wohl schwer verletzt in Sicherheit bringen können. Anderen war es gelungen, sich innerhalb der Ruinen der Stadt vor den Wolfsreitern zu verstecken. So hatten auch die drei Flüchtlinge überlebt. Nachdem sie allerdings ihr Versteck verlassen hatten, um sich in Sicherheit zu bringen, wurden sie entdeckt und von den beiden Wolfsreitern verfolgt. Fragen nach der Stärke und Zusammensetzung der Streitmacht, die Westhoven erobert hatte, konnten die Verängstigten jedoch nicht beantworten. Als die Flüchtlinge erwähnten, daß sie seit drei Tagen schon nichts mehr gegessen hatten, erinnerten sich auch Melissa und Eric ihres Hungers. Auf dem Feuer, das allmählich herunterbrannte, waren nur noch die verkohlten Überreste des Rebhuhns, das Melissa erlegt hatte. Da es inzwischen für die Jagd eindeutig zu dunkel war, schlug Eric vor, Riesenwolf auf die nächtliche Speisekarte zu setzen.
Unerwartete Fähigkeiten
Während Eric sich mit einem der Flüchtlinge daran machte, den Wolf waidmännisch zu zerlegen, wandte Melissa sich den beiden weiblichen Flüchtlingen zu. Eine von beiden schaute teilnahmslos in das Feuer und ließ sich nicht ansprechen. Die andere erzählte Melissa, daß Marijan – so der Name der Teilnahmslosen – miterlebt hatte, wie ihre gesamte Familie von den Wolfsreitern abgeschlachtet worden war. Die letzten Tage hatte sie ununterbrochen schreckliche Angst gehabt und die letzte Verfolgung war wohl endgültig zu viel für sie gewesen. Melissa nickte. „Und wie ist dein Name?“, wollte sie wissen. „Ich heiße Helena und mein Mann heißt Julius“, erzählte sie. Sie beide waren frisch verheiratet und hatten einen alten Onkel ihres Mannes in Westhoven besucht, als der Angriff losbrach. Eigentlich kamen sie aus dem Fürstentum Falibor, daß zwei Tagesreisen entfernt lag. Melissa sah, daß auch Helena der Schrecken noch in den Gliedern steckte. Allerdings hatte sie bei dem Angriff niemanden verloren, der ihr nahe stand. Und den Onkel ihres Mannes, der bereits bei der ersten Angriffswelle von einem Pfeil getötet worden war, kannte sie erst seit einem Tag. Sie hatte noch die Hoffnung, mit nicht viel mehr als einem Schrecken aus der ganzen Sache herauszukommen. Melissa bat Helena, Marijan gut zuzureden und in den Arm zu nehmen. Diese Frau war, soweit man das beim Schein des Lagerfeuers und des Mondes erkennen konnte, kalkweiß im Gesicht und zitterte leicht. Dann ging Melissa zu Eric, der immer noch mit Julius an dem Riesenwolf zugange war. „Gibt es hier in der Nähe einen Bach oder einen Teich?“, wollte sie von Eric wissen. Der schaute kurz von seiner blutigen Tätigkeit auf und musterte sie irritiert. „Willst du jetzt etwa ein Bad nehmen?“, fragte er sie ungläubig. „Nein, aber ich brauche dringend ein paar Pflanzen, die in der Nähe von Gewässern wachsen. Und auch einiges an frischem Wasser.“ „Ungefähr 20 Minuten Weg von hier bin ich vorhin an einem Bach vorbeigekommen. Bei der Dunkelheit wirst du wohl noch länger brauchen“, kam es von ihm als Antwort. Er fragte sich, was sie denn jetzt für Pflanzen brauchte. Vielleicht war sie ja Vegetarierin, die sich einen Salat zusammensuchte, dachte er mit einem flüchtigen Grinsen.
Melissa ging zu ihrem Pferd und holte sich einen Stoffbeutel und einen seltsam länglich geformten Kessel aus der Satteltasche. Dann griff sie zu ihrem Schwert und rannte trotz der Dunkelheit leichtfüßig in den Wald hinein. Eric und Julius begannen unterdessen, zarte Stücke Wolfslende aufzuspießen und langsam über dem Feuer zu grillen. Dabei erzählte Julius auch von weiteren Monstern, die bei dem Angriff auf Westhoven dabeigewesen waren. Wenn Eric die Schilderung richtig interpretierte, waren auch Bergtrolle dabei. Dabei fiel ihm wieder seine bisher einzige Begegnung mit einem solchen Monstrum ein, mit dem er ohne Lucius nie fertig geworden wäre. „Wer ist eigentlich diese Frau?“, riß Julius ihn aus seinen Gedanken. „Ich habe noch nie jemanden gesehen, der sich im Kampf so kaltblütig verhalten hat, wie sie, als sie den Wolfsreiter erschoß.“ In Julius’ Stimme waren deutlich Ehrfurcht und eine Spur Angst zu erkennen. Und auch Eric empfand bei dem Gedanken an diese Szene nicht nur Bewunderung für Melissa. Sie war nicht nur gut, sie war eindeutig besser als er. Auch wenn ihm der Gedanke nicht sonderlich gefiel. Nachdem Eric allmählich etwas Abstand zu dem gefährlichen Kampf gewonnen hatte, bemerkte er, daß sein Rücken schmerzhaft brannte. Die Axt des Wolfreiters mußte ihn doch stärker verletzt haben, als er zuerst angenommen hatte. Er berührte kurz die Stelle mit den Fingern, an denen die Axt ihn gestreift und sein Hemd teilweise zerrissen hatte. Unter hörbarem Einatmen durch seine zusammengebissenen Zähne zog er die Finger wieder zurück und fluchte leise. Dann konzentrierte er sich auf das Grillen. Die Wunde würde schon wieder verheilen.
Nach einiger Zeit – Eric überlegte schon, ob er sie suchen gehen sollte – kam Melissa wieder zu dem Lagerfeuer zurück. Ihr Stoffbeutel war ausgebeult und einige Pflanzen ragten heraus. Außerdem schien sie den länglichen Kessel mit Wasser gefüllt zu haben. Wieder ging sie zu ihrem Pferd und holte einige Kupferschalen und einige kleine Dosen aus der Satteltasche. Dann begann sie leise murmelnd damit, verschiedene Pflanzen mit Wasser und dem Inhalt einiger Dosen zu vermischen. Mit einer Schale ging sie zu Marijan und überredete sie, den Inhalt zu trinken. Dann ging sie an Eric vorbei zu dem einen toten Wolfsreiter und nahm seine Axt auf. Sie beträufelte die Klinge mit einer Flüssigkeit und hielt sie anschließend ins Feuer. Die Klinge verfärbte sich dunkel. Danach näherte Melissa sich Eric. „Zieh dein Hemd aus“, forderte sie ihn ruhig aber bestimmt auf. Durch ihre Stimme aufgeschreckt bemerkte er, daß das Stück Fleisch auf seinem Spieß bereits verbrannt war. Irgendwie fühlte er sich leicht benommen und ärgerte sich über sein Mißgeschick. „Vergnüg’ dich mit einem anderen“, gab er deshalb patzig zurück. Als Reaktion schlug Melissa ihm genau auf die schmerzende Wunde. Wütend sprang er auf und holte mit er Hand zum Schlag aus. „Bist du noch bei Trost?“, fuhr er sie an. Melissa stand regungslos vor ihm und schaute ihn auf eine eigentümliche Weise an. Langsam ließ er die Hand wieder sinken. „Der Rücken tut mir auch so schon genug weh“, ergänzte er lahm. „Deshalb sollst du ja dein Hemd ausziehen, damit ich deine Wunde versorgen kann. Oder möchtest du lieber die nächsten Tage mit Wundfieber hier herumliegen?“ „So schnell bekomme ich kein Fieber“, antwortete er trotzig. „Die Axtklinge war vergiftet“, entgegnete Melissa leise. Eric schluckte. Und er begann, sein Hemd vorsichtig auszuziehen. Seine Wunde brannte dabei höllisch. Dann hockte er sich mit dem Rücken zu ihr hin und sie begann, eine Paste auf seine Verletzung aufzutragen. Hörbar atmete er durch die zusammengebissenen Zähne und ballte die Fäuste. Die Behandlung verschlimmerte die Schmerzen erheblich. Danach wusch sie ihm die Paste wieder vom Rücken und trug eine andere auf, die Eric als angenehm kühl empfand.
Helena war inzwischen herangetreten und nahm Erics Hemd auf. „Ich möchte nur das Blut auswaschen“, beantwortete sie Melissas fragenden Blick. Melissa gab ihr dazu etwas von dem Wasser in eine kleine Schüssel und ließ noch eine ölige Flüssigkeit hineintropfen. Außerdem reichte sie Helena Nadel und Faden, damit sie das Hemd reparieren konnte. Langsam wich auch die Benommenheit von Eric und er schimpfte über sein Mißgeschick mit dem verbrannten Fleisch. Julius hatte zwischenzeitlich aber genug Stücke für alle gegrillt und begann, diese zu verteilen. Auch Marijan nahm etwas zu essen und nagte kichernd daran herum. Die fragenden Blicke der anderen beantwortete Melissa mit dem Hinweis, daß ihr Beruhigungstrank für Marijan leicht berauschend wirke. Schließlich waren alle gesättigt, auch wenn der Riesenwolf niemandem wirklich geschmeckt hatte. Während Marijan beschwingt einschlief, kauerten sich Helena und Julius zusammen. „Was hast du vorhin eigentlich gemurmelt, als du die Tränke zusammengemixt hast? Waren das Zaubersprüche? Bist du eine Zauberin?“, wollte Eric von Melissa wissen. „Nein, ich kenne mich nur mit einigen Heiltränken, Giften und ähnlichem Zeug aus. Und das Gemurmel waren keine Zauberformeln, sondern Mischungsverhältnisse, die ich auswendig gelernt habe.“ Eric war beeindruckt. „Und wo lernt man so etwas?“, wollte er wissen. Melissa schaute ins Feuer. „Bei Zauberern“, antwortete sie mit einem versonnenen Lächeln. Wieder ernst fuhr sie fort: „Leider fehlt mir die magische Begabung, um auch nur die erste Stufe der Magie zu erreichen.“ Es war Eric, als hätte sie diese Worte mit bedauerndem Unterton ausgesprochen. „Wolltest du denn mal Zauberin werden?“, hakte er nach. Melissa nickte traurig. Dann lächelte sie wieder. „Zumindest habe ich dabei einige sehr interessante Menschen kennengelernt. Und halt einiges über Heiltränke erfahren, was man als Kriegerin gut brauchen kann.“
„Wo wir gerade von dir als Kriegerin reden“, wechselte Eric das Thema, „warum läufst du eigentlich in diesem verboten scharfen Harness herum?“ Melissa lachte leise, um die anderen, die inzwischen eingeschlafen waren, nicht zu wecken. „Das hat mehrere Gründe. Um in einer guten Rüstung kämpfen zu können, braucht man sehr viel Kraft. Und nicht jeder ist so ein Muskelprotz wie du. Falls du dir mal eine gute Rüstung leisten kannst, ist das für dich sicher eine gute Anschaffung. Wenn man sich dagegen nicht mit einer Rüstung schützen kann, muß man sehr schnell und beweglich sein. Das bin ich mit dem Lederharness.“ Sie setzte ein sehr freches Grinsen auf und fuhr fort. „Außerdem sind die meisten Gegner Männer. Und bei meiner Bekleidung brauchen die erst einen Moment, bevor sie sich aufs Kämpfen konzentrieren können. Dir ist das ja auch nicht anders ergangen, oder?“ Eric war froh, daß es dunkel war und sie nicht sehen konnte, wie er rot anlief. Um das Thema erneut zu wechseln, fragte er Melissa, was sie denn jetzt mit den Flüchtlingen machen sollten. „Fürst Willur von Westhoven soll doch entkommen sein. Vielleicht können wir sie dorthin bringen, wo die anderen Flüchtlinge sich gesammelt haben. Um Marijan mache ich mir allerdings Sorgen. Mein Beruhigungstrank dämpft im Moment die Schrecken, die auf ihrer Seele liegen. Aber wenn der Trank wieder nachläßt, kommen auch die Schrecken wieder. Wir bräuchten einen Heiler.“ Dabei fiel Eric sofort Katharina ein, die Lucius auf wundersame Weise von seinen Albträumen befreit hatte. Und auch, daß er Lucius unbedingt vor der Armee der Wolfsreiter warnen mußte. Auch wenn er nicht wußte, was Lucius gegen eine ganze Armee von Wolfsreitern und Bergtrollen ausrichten konnte. Er durfte allerdings auch nicht Lucius’ Geheimnis verraten. Fieberhaft suchte er nach einer Lösung. „Ich hätte da eine Idee“, meinte er schließlich. „Wir könnten versuchen, Willur zu überreden, mit seinen verbliebenen Soldaten nach Fendrich zu ziehen. In der Nähe gibt es auch eine Heilerin, die Marijan bestimmt helfen kann.“ „Gut“, meinte Melissa, „ich werde mich allerdings zuerst nach Westhoven schleichen und mir die Stärke und Zusammensetzung der Armee ansehen. Du kannst ja schon mal mit den anderen zu Willur gehen.“ „Ich komme mit dir. Auch ich muß wissen, wie stark diese Armee ist.“ Eric hatte nicht vor, sich auf eine Diskussion darüber einzulassen. Und Melissa nahm es einfach zur Kenntnis. Dann vereinbarten sie, daß zuerst Melissa Wache halten würde, da sie im Dunkeln viel besser sah als Eric. Deshalb hatte sie vorhin auch so schnell zu dem Bach gelangen können. Eric würde die zweite Wache übernehmen.
Totale Zerstörung
Kurz vor dem Morgengrauen wurde Eric von Melissa geweckt. Er reckte sich und stellte erfreut fest, daß sein Rücken kaum noch schmerzte. Dann nahm er sein Schwert, setzte sich auf einen Baumstumpf und lauschte aufmerksam in den Wald. Schmunzelnd bemerkte er, daß Melissa nach dem Hinlegen augenblicklich eingeschlafen war. Offensichtlich verfügte auch sie über die Gabe der meisten Krieger, in jeder Situation, die sich bietet, einzuschlafen und sich zu erholen. Nach einigen ereignislosen Stunden weckte er schließlich alle. Melissa und er würden sich nach Westhoven schleichen, während die anderen – diesmal hoffentlich unbehelligt – zu den versprengten Überresten von Willurs Soldaten gehen sollten. Wo diese zu finden sein würden, war den drei Flüchtlingen ungefähr bekannt. Nach einem ziemlich kärglichen Frühstück aus Beeren und kaltem Wolfsfleisch zogen sie los. Melissa hatte Marijan noch einen Schluck Beruhigungstrank gegeben, dann gingen die Flüchtlinge in die eine, Eric und Melissa in die andere Richtung in den Wald. „Hast du eigentlich Erfahrung im Anschleichen?“, wollte Melissa wissen. Eric war es unangenehm, schon wieder etwas zugeben zu müssen, was er noch nicht konnte. Aber er hielt es in ihrer Situation für zu gefährlich, Melissa etwas vorzuflunkern. Und so sagte er ihr, daß er das bisher noch nie gemacht hatte. „Dann schlage ich vor, du verhältst dich so wie ich. Und wenn ich dir etwas sage, machst du es ohne Diskussion.“ Als Eric zögerte, fügte sie noch hinzu, „Andernfalls mache ich das lieber alleine. Ich möchte nämlich nicht durch einen Anfänger in Gefangenschaft geraten.“ Mit einer säuerlichen Miene stimmte er zu. Melissa ging leise und vorsichtig voran, Eric folgte ihr mit etwas Abstand und leicht versetzt, wie er es bei Lucius gelernt hatte. Er sah, wie Melissa dies mit dezenter Anerkennung zur Kenntnis nahm. Wenigstens gebe ich nicht komplett das Bild eines Anfängers ab, dachte er sich und versuchte, sich genauso lautlos zu bewegen, wie sie es tat.
Zweimal legte sie sich ganz plötzlich flach auf den Boden und Eric folgte sofort ihrem Beispiel. Beim zweiten Mal konnte er auch den Grund erkennen. Eine Patrouille lief wenige Meter an ihnen vorbei. Dann kamen schließlich die ersten Häuser von Westhoven in Sicht. Sie waren völlig zerstört und ausgebrannt. Vorsichtig schlichen die beiden zwischen den Ruinen auf die Stadtmauer zu, die die inneren Bezirke von Westhoven umschloß. Der Begriff Stadtmauer paßte allerdings nicht mehr auf das, was bald vor ihnen aufragte. Große Stücke der Mauer bestanden nur noch aus Trümmerhaufen. Es schien, als habe eine große Faust einfach Stücke aus der Mauer herausgeschlagen. Vorsichtig kletterten sie über eine dieser Geröllansammlungen, darauf bedacht, so schnell wie möglich wieder bei einer Ruine in Deckung zu gehen. Innerhalb der Mauern schlug ihnen ein süßlicher Gestank entgegen, bei dem Eric sich fast übergeben mußte. Und das, was er hier sah, verstärkte diesen Drang noch. Überall lagen verstümmelte Leichen und Leichenteile herum. Einige waren verbrannt, andere angefressen. Und überall mußten sie in Blutlachen treten. An vielen Stellen brauchte man nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, was hier vor drei Tagen geschehen war. Melissa blickte mißbilligend auf Eric, der inzwischen leichenblaß aussah. „Reiß dich bloß zusammen“, zischte sie ihm zu. Ihr schien weder der Anblick noch der Verwesungsgeruch etwas auszumachen. Für Eric schien es eine Szene aus dem Albtraum zu sein, von dem Lucius ihm einmal erzählt hatte. Nach einer Weile hatte Eric sich wieder so weit im Griff, daß er diese Eindrücke zumindest verdrängen konnte. Aber er verstand jetzt sehr gut, was Marijan fast um den Verstand gebracht hatte. Und er versuchte, sich nicht vorzustellen, wie man sich erst fühlen mußte, wenn man in diesem Horror-Szenarium auch noch nahestehende Menschen qualvoll sterben sah.
Schließlich kamen sie an den anderen Rand der Stadt und sahen das Lager der siegreichen Armee. Für Eric war es eine wilde Ansammlung von Zelten, zwischen denen Riesenwölfe angepflockt waren, Wolfsreiter herumliefen und Bergtrolle sich von etwas ernährten, was Eric schaudernd als menschliche Gliedmaßen identifizierte. An anderen Stellen lagerten auch menschliche Soldaten, die sie bereits mehrfach als Patrouille gesehen hatten. Als Eric sah, daß zwei Trolle einen Menschen aufspießten und über dem Feuer grillten, mußte er sich zurückziehen und seine ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um sich nicht zu übergeben. Melissa murmelte unterdessen teilnahmslos: „50 Trolle, 200 Wolfsreiter, 800 Soldaten, 20 Katapulte, mehrere Magier“ Dann zog auch sie sich vorsichtig zurück. Sie nahm Eric am Arm und zog ihn wieder zum anderen Ende der Stadt. Als sie gerade wieder über einen Trümmerhaufen klettern wollten, der einmal Teil der Stadtmauer gewesen war, ließ sie sich plötzlich dicht an einer Ruine fallen und riß auch Eric mit sich. Er kam dabei in einer Blutlache zu liegen und würgte leise. „Still“, raunte Melissa ihm zu, und er schaffte es gerade so, keinen Laut von sich zu geben. Dann vernahm er dröhnende Schritte und zwei Trolle liefen in Armweite an ihnen vorbei. Als sie endlich die Stadt wieder verlassen hatten und einige Meter in den Wald hineingegangen waren, konnte Eric sich nicht mehr beherrschen. Er kotzte sich fast die Seele aus dem Leib.
Nachdem er sich einigermaßen beruhigt hatte, fragte Melissa ihn was er denn eigentlich sei. „Du kämpfst wie ein Krieger, bist aber unerfahren und zart besaitet wie ein Bauernjunge. Bist du noch nie auf einem Schlachtfeld gewesen?“ Eric schüttelte den Kopf und erzählte ihr von seiner Lehre als Schmied und seiner Ausbildung bei Rudolf und Lucius, wobei er von letzterem nicht viel verriet. „Und der Wolfsreiter“, fuhr er fort, „war der erste Mensch – falls Gnome Menschen sind – den ich getötet habe.“ Jetzt nickte Melissa verständnisvoll. „Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich dich nicht mitgenommen. Na ja, es gibt wohl immer ein erstes Mal. Und jetzt begreifst du wohl, was es bedeutet, ein Kämpfer zu sein.“ Eric war noch immer kreidebleich. So hatte er sich das Leben als Held nicht vorgestellt. Sie kamen wieder an ihrem Lagerplatz vorbei und folgten den Spuren von Julius, Helena und Marijan. Schließlich näherten sie sich dem Waldstück, in dem sich die Überreste von Willurs kleiner Streitmacht versammelt hatten. Da es hier relativ laut war, bemerkten sie erst gar nicht, daß sie von einem Dutzend Soldaten verfolgt wurden. Erst als ein weiteres Dutzend auf sie zukam, erkannten sie, daß sie eingekreist worden waren. Beide griffen instinktiv an ihre Schwertknäufe. Aber gegen 24 Soldaten, die nur eine Gelegenheit suchten, die Schmach ihrer Niederlage abzuschütteln, hätten sie keine Chance gehabt. Im letzten Moment kamen Julius und Helena angelaufen und erklärten den Soldaten, daß es diese beiden waren, die ihnen das Leben gerettet und zwei Wolfsreiter getötet hatten. Das schien auch den Soldaten Respekt einzuflößen.
Eric und Melissa wurden zusammen mit Julius und Helena zu dem Zelt eskortiert, in dem Fürst Willur lag. Dieser schleppte sich heraus und hörte sich zuerst an, was Julius zu sagen hatte. Dann wandte er sich Eric und Melissa zu. „Was wollt ihr hier?“ „Wir möchten Euch einen Vorschlag machen“, begann Eric. Melissa musterte unterdessen den verletzten Fürst. Und sie kam zu der Überzeugung, daß er höchstens noch ein oder zwei Tage zu leben hätte. „Wenn Ihr mit Euren Soldaten und Euren überlebenden Untertanen nach Fendrich geht“, führte Eric aus, „hättet Ihr und die Stadtwachen von Fendrich vielleicht eine Chance, die Angreifer abzuwehren, falls sie Euch weiter verfolgen.“ „Ich bezweifle, daß es irgend etwas gibt, daß diese Armee aufhalten kann“, antwortete Fürst Willur. Jedes Wort schien ihm Schmerzen zu bereiten. „Außerdem gibt es bei Fendrich einen Walddämon, der meine Soldaten weiter dezimieren würde.“ Eric dachte einen Moment nach. Wie konnte er Lucius die Nachricht zukommen lassen, daß diese Soldaten in Frieden kamen. Am besten wäre es, wenn er sie begleiten würde. „Um den Walddämon braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen. Er beschützt Fendrich. Wenn er merkt, daß Ihr nicht zum Schaden von Fendrich kommt, wird er Euch helfen.“ „Wir können Euch begleiten und ...“ Melissa unterbrach ihn. „Ich muß schnellstens nach Falibor und Fürst Woltar warnen. Er ist der Nächste auf dem Weg dieser grauenhaften Armee.“ „Dann werde ich dich begleiten“, gab Eric zurück. „Und Ihr, Fürst Willur, könnt dem Walddämon folgendes ausrichten:“ Eric überlegte schnell, was er dem Fürsten mitgeben konnte, damit Lucius wußte, daß er ihn geschickt hatte. Dann grinste er. „Bei Erics Schmiedekunst und Katharinas Gürtel, der Freund, der die Kette nicht durchtrennen konnte, schickt uns.“ Lucius würde wissen, daß diese Botschaft nur von Eric kommen konnte. Und alle anderen würden den Sinn nicht begreifen. Fürst Willur hatte zwar noch erhebliche Zweifel, wußte allerdings auch keine bessere Alternative und gab dem Hauptmann seiner Soldaten entsprechende Befehle. Dann wankte er wieder in sein Zelt zurück. Eric erklärte Julius und Helena noch, daß sie dem Dämon von Marijan erzählen sollten. Dieser würde ihr dann helfen. Die beiden schauten ihn fragend an. Und auch Melissa machte ein Gesicht, als zweifle sie an seinem Verstand. „Vertraut mir einfach. Ich kenne den Dämon.“ Julius sagte zu, daß er es versuchen würde. Dann aßen Eric und Melissa noch etwas und verließen das Lager in Richtung Falibor. Eric hatte noch das Pferd eines Soldaten bekommen, der beim Kampf gefallen war, so daß sie jetzt beide reiten konnten. „Von dem Dämon hattest du mir nichts erzählt“, meinte Melissa, während sie nach Falibor ritten. „In gewisser Weise schon“, antwortete Eric in Rätseln.
Freund oder Feind
Während Eric mit Melissa nach Falibor ritt, bemerkte Lucius auf einem seiner Rundgänge, daß sich eine Armee dem Wald um Fendrich näherte. Zunächst war sie noch zu weit weg, um ihre Stärke abzuschätzen. Und er begann fieberhaft, sich Verteidigungsstrategien zu überlegen. Vielleicht konnte er die Armee durch die Taktik der kleinen Nadelstiche von ihrem Vorhaben abbringen. Wenn er immer wieder kurz zuschlug und sich dann zurückzog, würde das die Moral der Angreifer schnell untergraben, zumal er jedes Mal einen erheblichen Blutzoll fordern würde. Außerdem hatte er schon früher einige Fallen im Wald vorbereitet. Die Zeit war zwar zu kurz, um alle vorzubereiten, aber der Weg durch den Wald würde diese Armee viele Opfer kosten. Schnell machte er sich auf den Weg zu Katharina. Sie würde ihm helfen müssen. Teilweise mit den Fallen, in jedem Fall aber mit ihren Heilkräften. Denn obwohl er sicher jedem einzelnen Kämpfer dieser Armee weit überlegen war, würde auch er sich Verletzungen zuziehen, wenn er immer wieder gegen einen so übermächtigen Gegner antrat. Katharina war ziemlich verängstigt, als er ihr von den Angreifern erzählte. „Wenn du Angst hast, ich könnte getötet werden und niemand befreit dich dann aus deinem Keuschheitsgürtel, kann ich dich ja sicherheitshalber herauslassen“, schlug er vor. Sie zog einen Schmollmund. Als er sie fragend ansah, meinte sie, daß sie sich keine Sorgen um sich sondern um ihn machen würde. Außerdem wüßte sie ihre Familie gerne in Sicherheit.
„Ich bin mir wirklich nicht sicher, wo es für deine Familie gefährlicher sein wird. Hier bei mir oder in der Stadt.“ Er zögerte. „Und außerdem möchte ich nicht riskieren, daß deine hysterische Schwester hier einen Schreikrampf bekommt und die Feinde zu dieser Höhle lockt.“ Widerwillig mußte sie ihm bei dieser Einschätzung ihrer Schwester recht geben. Dann ließ er sie alles vorbereiten, um ihm bei Verletzungen schnell helfen zu können. Sie kochte Wasser ab, legte einige besonders scharfe Messer zurecht und bereitete aus Leinentüchern, die eigentlich Bettücher waren, Verbandszeug vor. Dann machte Lucius sich wieder auf den Weg. „Paß bloß auf dich auf“, rief Katharina ihm noch halblaut hinterher. Aber da war er bereits im Wald verschwunden. Er spannte einige Armbrüste, die die Angreifer selbst durch versteckt gespannte Signalleinen auslösen würden, stellte an schlecht einsehbaren Stellen Speere auf, in die unvorsichtige Reiter hineintraben würden und deckte tückische Gruben mit Laub ab. Dann näherte er sich wieder dem Waldrand, um die Armee genauer betrachten zu können. Da es bereits begonnen hatte zu dämmern, konnte er noch immer nicht genau die Stärke der Truppen erkennen. Aber es schienen etwa 500 Mann zu sein. Eine ganze Menge, um alleine mit ihnen fertig zu werden. Er könnte zwar noch die Stadtwache und die Bürgerwehr von Fendrich alarmieren, aber auch damit käme keine große Streitmacht zusammen. Die einigermaßen ausgebildete Stadtwache, die hauptsächlich für Gesetz und Ordnung innerhalb der Stadt sorgte, käme gerade auf 70 Mann. Und die Bürgerwehr umfaßte zwar 150 Mann, die meisten davon konnten aber mit kaum mehr als einer Mistgabel umgehen. Er würde ihnen zwar bald Bescheid geben, damit sie sich vorbereiten könnten, aber wahrscheinlich war die dabei entstehende Panik gefährlicher als die anrückende Armee.
Diese hatte inzwischen ein Lager aufgeschlagen. Besonders unauffällig benahmen sie sich nicht. Aber wahrscheinlich rechneten sie in Fendrich auch nicht mit ernsthaftem Widerstand. Leise schlich er sich in die Nähe des Lagers. Dabei machte er allerdings eine verwirrende Entdeckung. Von den 500 Mann, die er aus der Entfernung geschätzt hatte, waren weit mehr als die Hälfte Frauen und Kinder. Und die Soldaten waren in ziemlich schlechter Verfassung. Diese „Armee“ schien eher auf der Flucht als auf dem Vormarsch zu sein. Einem Geist gleich schlich er sich in das Lager, darauf bedacht, stets im Schatten der Lagerfeuer zu bleiben und nicht entdeckt zu werden. Ein Zelt in der Mitte des Lagers schien dem Kommandeur der Armee zu gehören. Die Standarte von Westhoven war davor aufgepflanzt. Lucius schlich sich zur Rückseite des Zeltes und lauschte. Vielleicht konnte er so etwas über die Absichten dieser seltsamen Armee erfahren. Drinnen hörte er allerdings nur jemanden schwer atmen und leise stöhnen. Dann betrat eine weitere Person das Zelt. „Mein Fürst, Ihr habt nach mir geschickt?“, hörte Lucius eine kräftige Stimme sagen. „Ja, Hauptmann. Ich glaube nicht, daß ich diese Nacht noch überlebe. Führe meine Untertanen in Sicherheit nach Fendrich – wenn es so etwas wie Sicherheit überhaupt noch gibt.“ Die Stimme des Fürsten war brüchig, und es schwang auch Verbitterung darin mit. „Ich sage dir jetzt die Botschaft an den Walddämon von Fendrich. Hoffentlich stellt er sich wirklich auf eure Seite. Sonst werdet ihr wahrscheinlich nicht einmal Fendrich erreichen.“ Lucius’ Sinne waren angespannt. Eine Botschaft für ihn? Wer im Fürstentum Westhoven kannte ihn gut genug, um ihm eine Botschaft zu schicken? Und dann auch noch eine, die ihn dazu bringen sollte, dieser Armee zu helfen. Andererseits sah diese Truppe schon erbarmungswürdig und nicht wirklich bedrohlich aus. „Der Krieger hat mir gesagt, daß der Dämon euch durchlassen wird, wenn ihr ihm sagt: Bei Erics Schmiedekunst und Katharinas Gürtel, der Freund, der die Kette nicht durchtrennen konnte, schickt uns.“ Der Fürst keuchte schwer, nachdem er diese Worte gesagt hatte. „Merke dir die Worte gut, Hauptmann, ich glaube, euer aller Leben wird davon abhängen.“ Lucius wußte jetzt, wer ihm eine Botschaft geschickt hatte. Eric wollte, daß er diesen Menschen helfen sollte. Nun, nach einer Bedrohung sahen sie nicht aus. Und er würde ihnen zumindest Gelegenheit geben, sich zu erklären. Und zwar am besten sofort.
Mit einem schnellen Schnitt durchtrennte er die hintere Zeltbahn und trat an den Fürsten heran. In jeder Hand hielt er eines der speziellen Schwerter, die Eric nach seiner Anleitung geschmiedet hatte. Während er das linke Schwert an die Kehle des Fürsten hielt, war sein rechtes auf den Hauptmann gerichtet. Dieser war von Lucius’ Erscheinen so perplex, daß er noch nicht zu seiner Klinge gegriffen hatte. Da Lucius – wie immer, wenn er über Fendrich wachte – seine spezielle Dämonenrüstung angelegt hatte, mußte dies zusammen mit seinem plötzlichen Erscheinen wirklich furchteinflößend aussehen. Der Fürst war deutlich weniger beeindruckt, wahrscheinlich, weil er ohnehin nur noch Stunden zu leben hatte und den Tod bereits erwartete. „Ich nehme an, du bist der Walddämon von Fendrich“, setzte er mit leiser Stimme an. „Ich habe eine Botschaft für dich.“ „Die habe ich bereits gehört“, unterbrach Lucius ihn. „Warum sollte ich euch helfen? Und was macht ihr hier überhaupt, drei Tagesritte von Westhoven entfernt?“ Der Hauptmann hatte sich von seinem ersten Schrecken erholt. „Steck sofort deine Schwerter weg. Im Zelt des Fürsten ...“, fuhr er Lucius an, obwohl ihm deutlich anzusehen war, daß es ihn seinen ganzen Mut kostete. Der Fürst hob die Hand und brachte den Hauptmann damit zum Schweigen. „Ist schon gut, Hauptmann. Wir sind es, die sich Fendrich mit einer Armee nähern – wenn man das hier noch eine Armee nennen kann“, sagte er mit einer ausladenden Handbewegung. Und an Lucius gewandt fuhr er fort: „Westhoven ist überfallen und völlig zerstört worden. Was du hier siehst, ist der Rest der Bevölkerung, die bisher wie durch ein Wunder überlebt hat.“ „Wer hat euch angegriffen?“, wollte Lucius wissen. „Das wissen wir nicht. Es war eine Armee aus Wolfsreitern, Bergtrollen und regulären Soldaten. Auch Kriegsmaschinen und Magie wurden gegen uns eingesetzt.“ Bei dem Wort „Bergtroll“ wurde Lucius sofort hellhörig. „Waren die Bergtrolle besonders ausgerüstet?“, wollte er wissen. „Sie hatten schwere Panzer an“, mischte sich der Hauptmann ein. Lucius nickte. Genau wie der Troll, der ihn und Eric angegriffen hatte. Ach ja, Eric. „Wer hat euch die Botschaft an mich genannt?“, wollte Lucius wissen. Natürlich Eric. Aber er wollte die näheren Umstände wissen.
Der Fürst erzählte ihm stockend, daß ein großer, muskulöser Krieger und eine sehr leicht bekleidete Frau drei seiner Untertanen vor zwei Wolfsreitern gerettet hatten. Der Krieger hatte ihm vorgeschlagen, die Überlebenden nach Fendrich zu bringen und dem Walddämon die Botschaft auszurichten. Beide waren dann zum Fürstentum Falibor aufgebrochen, um vor der Gefahr zu warnen. „Ihr werdet heute Nacht hier lagern und nicht weiter in den Wald eindringen. Es wäre euer sicherer Tod“, wies Lucius den Hauptmann an. „Morgen werde ich euch durch den Wald nach Fendrich führen. Und du wirst mir die Befehlsgewalt über die Soldaten geben.“ „Ich kann meine Soldaten doch nicht einem Dämon unterstellen“, protestierte der Hauptmann. „Es wird dir gar nichts anderes übrig bleiben“, antwortete Lucius leise. „Er hat Recht, Hauptmann. Es ist sein Gebiet. Und nur gemeinsam habt ihr eine Chance, die fürchterliche Armee abzuwehren“, mischte sich der Fürst unter lautem Husten ein. Dann ging er, gestützt auf den Hauptmann, vor sein Zelt. Lucius stand hinter den beiden. Der Hauptmann rief die Leute herbei, die sich vor dem Zelt aufstellten. Dann gab der Fürst noch einmal bekannt, daß der Walddämon sich ihrer annehmen und die Befehlsgewalt über die Soldaten bekommen würde. Dem Hauptmann war anzusehen, daß ihm das nicht gefiel. Aber er sagte kein Wort. Die überlebenden Bürger und Soldaten von Westhoven nahmen diese Erklärung mit einem ungläubigen Raunen zur Kenntnis. Aber auch mit der Hoffnung, jetzt doch noch eine Überlebenschance zu haben. Der Fürst schleppte sich wieder in sein Zelt zurück. Und Lucius machte sich wachsam auf den Weg aus dem Lager. Auf halber Strecke wurde er angesprochen. „Entschuldigung“, hörte er neben sich eine schüchterne Stimme. Er drehte sich um. Vor ihm stand ein junger Mann mit zwei Frauen. Die eine schaute ihn etwas ängstlich, aber auch hoffnungsvoll an, die andere schien einfach durch ihn hindurchzusehen. „Ihr seid doch der Walddämon, von dem Eric erzählt hatte.“ Lucius deutete ein Nicken an. „Eric meinte, Ihr könntet Marijan helfen. Sie ist völlig apathisch und ißt auch nichts mehr, seit wir aus Westhoven geflohen sind.“ „Seid ihr die drei, die Eric und die Frau gerettet hatten?“, wollte Lucius wissen. Und sie erzählten ihm von der Begegnung. „Außerdem“, schloß Julius seine Erzählung ab, „meinte die Amazone, daß Ihr sicher an der Truppenstärke der Feinde interessiert seid.“ Und er zählte auf, was Melissa ihm gesagt hatte: „50 Trolle, 200 Wolfsreiter, 800 Soldaten, 20 Katapulte, mehrere Magier“ „Eine erstaunliche Frau, die Eric da getroffen hat“, murmelte Lucius anschließend. Dann sah er Marijan an und meinte, er würde sich um sie kümmern. Er ergriff ihren Arm und zog sie mit sich. Wie in Trance folgte sie ihm. Sehr schnell kam er so allerdings nicht voran. Darum legte er sie über die Schulter und kehrte im Laufschritt zu seiner Höhle zurück. Dort angekommen erzählte er Katharina die Neuigkeiten in aller Kürze. Dann legte Katharina einen Arm um Marijan und setzte sich mit ihr auf eine Bank. Nach einiger Zeit fielen Marijan die Augen zu und sie schlief ein. „Sie wird einige Tage brauchen, bevor sie das Schlimmste hinter sich hat“, erklärte Katharina leise. Lucius nickte und sie gingen beide zu seinem Lager. „Ich bin froh, daß ich dich habe“, meinte er ernst und streichelte ihr Haar. Sie schaute zu ihm auf. „Es wird noch schlimmer werden, oder?“, wollte sie wissen. „Ich fürchte, ja“, war seine Antwort, bevor er sie in die Arme nahm. Katharina seufzte und schmiegte ihren Kopf an seine Brust. Sie spürte eine große Unruhe, die Lucius befallen hatte. Dann schloß sie ihre Augen und konzentrierte sich auf einen inneren Ort, der für sie die absolute Ruhe bedeutete. Ganz langsam griff ihre Ruhe auf Lucius über. Zunächst wehrte er sich noch einen Moment dagegen, dann gab er seinen Widerstand auf. Sanft fiel er in ihren Armen in einen tiefen Schlaf. Katharina wußte, daß Lucius in nächster Zeit all seine Kräfte brauchen würde. Während sie noch tiefer in seinen Geist eindrang, um ihm eine erholsame Ruhe zu ermöglichen, stieß sie plötzlich auf etwas völlig Fremdartiges. Erschreckt zuckten ihre Gedanken zurück. Es war ihr, als wäre sie auf eine Mauer aus brennendem Eis gestoßen. Jeder Kontakt mit dieser Barriere war schmerzhaft und erschreckend für sie. So begnügte sie sich damit, Lucius dort Ruhe und Erholung zu schenken, wo es ihr möglich war. Und sie fragte sich, welche Geheimnisse wohl hinter dieser Barriere verborgen waren. Aber so sehr es sie verwirrte und so sehr ihr der Kontakt mit dieser unsichtbaren Mauer Angst und Entsetzen eingeflößt hatte, ihr Vertrauen in Lucius war unbegrenzt.
Ankunft in Falibor
Nach einem anstrengenden Ritt, der Eric jeden Muskel seines Hintern spüren ließ, kamen sie in Falibor an. Es war eine düstere Stadt, die keinen sehr einladenden Eindruck machte. Fast schien es, als wollte Falibor seine Besucher abschrecken und vertreiben. Die Häuser vor den äußeren Stadtmauern waren grau und schäbig. Und auch die Menschen, die zwischen ihnen herumliefen, wirkten fahl und grau. Melissa hüllte sich dichter in ihren Umhang, als wolle sie verhindern, daß diese Tristesse an ihren Körper gelangte. Und Eric ließ instinktiv sein exotisches Schwert in einer Decke verschwinden. Als sie sich dem Stadttor näherten starrte die Stadtwache sie finster und mißtrauisch an. „Was wollt ihr in Falibor?“, fragte der Soldat unwirsch. Kurz bevor Melissa zu der Antwort ansetzen konnte, sie wollten eine Audienz bei Fürst Woltar, antwortete Eric: „Wir wollen meinen Vetter Wolfram besuchen. Wir sind nämlich frisch verheiratet und besuchen jetzt die Verwandtschaft.“ Dabei setzte er ein möglichst dümmliches, naives Lächeln auf. Die Stadtwache musterte erst Melissa und dann Eric abschätzig. „Und wo wohnt dein Vetter?“, wollte er von Eric wissen. „Keine Ahnung. Ich war noch nie in so einer großen Stadt. Er sagte, ich solle mich nach dem Gasthaus ‚Grüner Krug’ durchfragen. Könnt Ihr mir sagen, wo ich das finde?“ Der Wächter setzte zu einer ärgerlichen Antwort an. Und Eric ließ wie nebenbei seine kräftigen Armmuskeln spielen. Dabei behielt er sein dümmlich naives Lächeln bei. Man konnte deutlich erkennen, daß der Soldat abschätzte, ob er sich mit diesem Muskelprotz anlegen sollte. Und er entschied sich dagegen. „Hier gibt es kein Gasthaus ‚Grüner Krug’“, sagte er schließlich mürrisch. „Du meinst wohl das Gasthaus ‚Zum goldenen Krug’.“ Eric grinste noch eine Spur dümmlicher und meinte, das könne auch sein. „Reitet geradeaus zum Marktplatz und fragt von dort aus weiter“, war die unwillige Antwort des Gardisten. Noch einmal glitt ein Schatten des Mißtrauens über sein Gesicht. „Was bist du eigentlich von Beruf?“ „Hufschmied“, kam es sofort von Eric. Und damit war auch der letzte Zweifel des Wachsoldaten zerstreut, der immer noch mit Respekt auf die Armmuskeln von Eric schaute. Mit den Worten, „Macht, daß ihr weiter kommt.“, rettete er in seinen Augen die Würde seines Amtes und wandte sich ab.
Eric und Melissa ritten langsam auf den Marktplatz zu. „Was sollte denn das jetzt?“, raunte Melissa ihm ärgerlich zu. „Wir als Paar, davon kannst du höchstens träumen.“ „Stell dich nicht so an. So wie der Wachsoldat geguckt hatte, hätte er uns mit Sicherheit nach Waffen durchsucht, wenn wir ihm nicht eine Geschichte erzählt hätten, die er glaubt und bei der er sich selbst wichtiger fühlen kann.“ Melissa schaute ihn irritiert an. Dafür, daß er eigentlich noch ziemlich unerfahren war, hatte er erstaunlich überlegt gehandelt. So ganz wollte sie ihm den Triumph aber doch nicht gönnen. „Das mit dem ‚Grünen Krug’ war aber verdammt leichtsinnig.“ „Ach was“, grinste er zurück, „es gibt immer eine Gaststätte mit ‚Krug’ im Namen. Und so dämlich, wie ich eben aus der Wäsche geschaut habe, traut der Soldat mir bestimmt nicht einmal zu, mir den Namen bis zum Marktplatz zu merken.“ Melissa schüttelte den Kopf und mußte widerwillig grinsen. „Wenn wir selbstbewußt nach einer Audienz bei Woltar gefragt hätten, wären wir auch problemlos an der Wache vorbeigekommen“, schob sie noch ohne großen Enthusiasmus nach. Sie fragten sich wirklich zu dem Gasthaus ‚Zum goldenen Krug’ durch. Nicht, um dort jemanden zu treffen, sondern um sich erst einmal frisch zu machen und etwas zu essen. Auch im Gasthaus fiel ihnen auf, daß die wenigen Gäste und der Wirt irgendwie bedrückt wirkten. Beiläufig fragten sie, ob Fürst Woltan eigentlich in der Stadt wäre. „Ihr seid wohl schon lange nicht mehr in Falibor gewesen“, meinte einer der Gäste. „Fürst Woltar ist tot. Sein Neffe Atan regiert jetzt hier.“ So, wie der Gast es ausgesprochen hatte – und vor allem, wie die anderen Gäste dabei zusammengezuckt waren, schien es mit dem Tod des Fürsten nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Und den neuen Fürsten Atan schienen die Anwesenden nicht gerade in ihr Herz geschlossen zu haben. Allerdings schien auch der etwas gesprächigere Gast nicht mehr sagen zu wollen und wandte seine ganze Aufmerksamkeit dem Bier zu, das er vor sich stehen hatte.
„War vielleicht doch ganz gut, nicht gleich mit der Audienz bei Fürst Woltar loszulegen“, stichelte Eric später, als sie wieder allein waren. „Trotzdem muß ich mit dem Fürst – wer auch immer es ist – reden. Ich muß ihn schließlich vor der Gefahr warnen, die sich ganz in der Nähe zusammenbraut.“ Trotz ihrer Worte schien Melissa diese Entwicklung allerdings nicht sehr zu behagen. Nachdem sie das Gasthaus wieder verlassen hatten, machten sie sich auf den Weg zur inneren Stadtmauer. Wobei der dahinterliegende Teil der Stadt eigentlich bereits zur Residenz des Fürsten gehörte. Unterwegs schnappten sie noch auf, daß der neue Fürst die Steuern wohl drastisch erhöht hatte. Schließlich gelangten sie an das Tor zur Residenz des Fürsten. Im Gegensatz zum Rest der Stadt war die innere Stadtmauer in tadellosem Zustand und makellos sauber. Die fünf bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, die dieses Tor bewachten, schienen überrascht zu sein, daß jemand hineinwollte. Offenbar passierte das nur selten. Eric und Melissa schauten sich kurz fragend an, dann zuckte sie mit den Schultern und ging selbstbewußt, ja fast schon arrogant auf die Wachen zu. „Ich bin eine Abgesandte der Königin Stephania von Kartun und habe eine Botschaft für Fürst Atan“, erklärte sie zu Erics Verblüffung. „Und er dort“, sie deutete dabei mit dem Daumen hinter sich auf Eric, ohne sich dabei umzusehen, „ist mein Begleiter.“ Für einen Moment stand Eric da wie ein begossener Pudel. Das war dann wohl die Revanche für die Vorstellung am äußeren Stadttor, dachte er. Die Wachen standen ihr jetzt aufmerksam, allerdings etwas ratlos gegenüber. Dann meinte einer der Gardisten, er würde dem Leutnant der Wache Bescheid geben. Sie solle hier solange warten. Melissa verzog keine Miene. Kurz darauf kam der Soldat mit einem weiteren Gardisten zurück, der offensichtlich einen höheren Rang bekleidete. Er sah Melissa und Eric kurz an und meinte dann, daß sie zuerst ihre Waffen abgeben sollten. „Auf gar keinen Fall“, kam es sofort von Melissa zurück. Ihre Stimme war dabei noch eine Spur arroganter als vorher. „Wir sind Gesandte und keine Bittsteller“, fügte sie noch herablassend hinzu. Für einen Moment sah man, wie es im Geist des Leutnants arbeitete. Dann meinte er, sie sollen ihm folgen. „Du und du, ihr kommt mit“, sagte er zu zwei der Wachsoldaten. Dann drehte er sich um und ging zügig voraus. Melissa und Eric eilten ihm mit ihren Pferden am Zügel nach und die zwei Soldaten folgten am Schluß.
Sie kamen zu einem Gebäude, in dessen Vorhalle der Leutnant sie zusammen mit den Soldaten warten ließ. Ihre Pferde hatten sie vor dem Gebäude angebunden und die Satteltaschen über die Schulter gelegt. Es dauerte einige Minuten, bis der Leutnant wieder erschien. „Fürst Atan lädt euch heute Abend zum Essen ein. Ihr seid seine Gäste.“ Das Gesicht des Leutnant war bei diesen Worten versteinert. Es war nicht zu erkennen, ob er sich über diese Entwicklung freute, ärgerte oder ob sie ihm gleichgültig war. Dann wandte er sich an einen der Soldaten. „Bring die Gäste zu den Gästezimmern im grünen Gebäude.“ Der Gardist salutierte und sagte zu Melissa und Eric, daß sie ihm folgen mögen. Schließlich erreichten sie mit ihren Pferden ein grün gestrichenes Gebäude und bekamen zwei Gästezimmer zugewiesen. Hinter dem Gebäude rauschten die Stromschnellen eines Flußes entlang, der sich durch ganz Falibor schlängelte. Nachdem der Soldat gegangen war, schauten sie sich erst einmal sorgfältig in den Zimmern um. Sie konnten nichts verdächtiges erkennen, hatten aber irgendwie ein ungutes Gefühl. „Gehe davon aus, daß wir die ganze Zeit beobachtet und belauscht werden“, raunte Melissa Eric zu. „Sag mal, stimmt das wirklich? Bist du wirklich die Abgesandte einer Königin?“, wollte Eric wissen. Melissa grinste ihn an. „Ja, das bin ich.“ „Ich dachte immer, Abgesandte wären alte Männer, die mit einer Ehrengarde reiten“, wunderte er sich. „Schön, daß du mich nicht für einen alten Mann hältst“, lachte sie. „Aber meine Mission sollte schnell und unauffällig durchgeführt werden. Deshalb reise ich alleine. Und daß ich auch ohne Soldaten ganz gut auf mich aufpassen kann, solltest du ja schon mitbekommen haben. Tatsächlich bin ich eine jener Soldatinnen, die bei uns normalerweise solche Gesandten begleiten.“ Dann begaben sie sich in ihre getrennten Zimmer, machten sich frisch und ruhten sich aus. Es würde noch einige Stunden dauern, bis das Abendessen begann. Und da sie bereits in der Gaststätte etwas gegessen hatten, kam ihnen das sehr gelegen.
Als später ein Diener zu ihnen kam und sie zum Abendessen führte, fiel Eric auf, daß Melissa sich offenbar schick gemacht hatte. Sie trug zwar noch immer einen ledernen Harness, dieser war allerdings mit goldenen und silbernen Beschlägen verziert und sah sehr edel aus. Außerdem hatte sie ihre Haare nicht mehr streng zurückgekämmt und zu einem Pferdeschwanz gebunden, sondern trug sie jetzt offen und bändigte sie mit einem silbernen Stirnreif. Eric kam sich in seiner normalen Kleidung etwas unpassend vor, aber er hatte keine andere. Nach einem kurzen Weg kamen sie zu einem prächtigen Gebäude, das im Wesentlichen aus einer großen Halle mit vielen Säulen an den Wänden bestand. Etwas erhöht stand in der Mitte ein großer, runder Tisch mit vielen Speisen. Eine handvoll Personen stand hinter prunkvollen Stühlen und wartete. Auch Melissa und Eric wurden zu zwei solchen Stühlen geführt. Ein besonders prachtvoller Stuhl stand den ihren gegenüber. „Der Fürst wird gleich kommen“, sagte der Diener, bevor er sich zurückzog. Während Melissa noch überlegte, ob es ihrer Stellung eher angemessen wäre, sitzend oder stehend auf den Fürsten zu warten, erschien dieser bereits und nahm auf dem besonderen Stuhl platz. Nun begannen auch die anderen Anwesenden, sich zu setzen. Nachdem das Essen begonnen hatte, fragte der Fürst Melissa, welche Botschaft sie denn zu überbringen hätte. „Ich bin von Königin Stephania beauftragt, Euch vor einem Angriff aus Manitien zu warnen. Wir haben gesicherte Erkenntnisse, daß von dort aus eine große Streitmacht nach Landor unterwegs ist. Und meine Königin bietet Euch und den anderen Fürsten von Landor eine Allianz zur Abwehr dieser Bedrohung an.“ Fürst Atan schien nicht überrascht zu sein. Weder von der Bedrohung, noch von dem Angebot, das Melissa überbracht hatte. „Eine Bedrohung aus Manitien? Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir wissen, daß Kartun und Manitien nicht gerade freundschaftliche Beziehungen haben. Und Wir können Uns gut vorstellen, daß die Königin von Kartun daran interessiert ist, Verbündete zu bekommen. Aber Wir wollen Uns in diesen Streit nicht hineinziehen lassen. Und Wir sind für Manitien weder eine Bedrohung, noch sind Wir für sie von Interesse.“
Melissa unterdrückte nur mühsam den Drang, Fürst Atan wie einen dummen Jungen zu behandeln. Seine Marotte, von sich im Plural zu sprechen, ließ ihn in ihrer Achtung nicht gerade steigen. So etwas stand allenfalls Königen zu, wobei ihre Königin Stephania solche Zurschaustellungen ihres Ranges nicht nötig hatte. Auch die Unterstellung, Kartun wäre auf die Unterstützung der Fürsten angewiesen, war einfach lachhaft. Sie bedauerte, daß nicht doch ein alter Mann als Gesandter geschickt wurde, wie Eric es sich vorgestellt hätte. Denn dieser hätte sicher mehr Übung darin, mit solchen Idioten umzugehen. Nachdem sie mit versteinerter Miene lange genug gewartet hatte, bis sie wieder ruhig und höflich antworten konnte, entgegnete sie: „Ich weiß zwar auch nicht, warum Manitien Fürstentümer in Landor angreift, aber der Angriff auf Westhoven hat bereits stattgefunden. Und Westhoven ist vollständig vernichtet worden.“ Auch diese Nachricht war für Fürst Atan offensichtlich keine Überraschung. „Wir wissen, daß Westhoven angegriffen wurde. Allerdings haben Uns Unsere Späher versichert, daß der Angriff aus Fendrich kam. Dort soll ja schon seit langem ein gefährlicher Walddämon sein Unwesen treiben.“ Eric setzte zu einer heftigen Antwort an, bekam von Melissa aber augenblicklich unter dem Tisch einen Tritt gegen das Schienbein und einen scharfen Blick. Er verstummte und rieb sich das Bein. Es war ihm zwar unklar, was Melissa wollte, aber er hätte ja ohnehin schlecht sagen können, daß er den besagten Walddämon persönlich kannte. Folglich hielt er den Mund. „Außerdem konnte Westhoven den Angriff problemlos abwenden“, fuhr der Fürst fort, „und es hat nur geringe Verluste gegeben. Diese Horrorgeschichten werden bei jeder Erzählung schlimmer. Demnächst heißt es noch, es gäbe dort keine Überlebenden mehr.“ Jetzt fiel es Melissa doch schwer, gleichmütig zu reagieren. „Ich habe das zerstörte Westhoven mit eigenen Augen gesehen. Genau wie die Streitmacht, die es zerstört hatte.“ Ihre Stimme klang dabei ruhig und kalt. Bei dem Hinweis auf die Streitmacht blitzte es kurz in den Augen des Fürsten. „Außerdem habe ich selbst gesehen, daß es innerhalb von Westhoven keine Überlebenden mehr gab. Einige wenige Bewohner, Fürst Willur eingeschlossen, sind auf der Flucht.“ Für einen Moment war es totenstill. Die Information, daß Fürst Willur noch lebte, war Fürst Atan sichtlich unangenehm. Und Melissa nahm sich vor, ihm nicht zu erzählen, daß er bei ihrer Begegnung dem Tode bereits sehr nahe gewesen war. „Wenn der Walddämon von Fendrich so gefährlich ist“, nahm Fürst Atan das Gespräch wieder in einem lockeren Tonfall auf, „dann sollten wir wohl demnächst gegen Fendrich in den Krieg ziehen.“ Bei den letzten Worten sah er Eric scharf an. Offenbar war ihm vorhin aufgefallen, daß Eric bei der Beschuldigung Fendrichs aufbegehren wollte. Aber dieser dachte noch an das schmerzende Schienbein und konzentrierte sich auf sein Essen. Außerdem schien dieser Fürst die Wahrheit absichtlich zu verdrehen. Es machte also keinen Sinn, ihn davon überzeugen zu wollen, daß er sich irrte. Eric grübelte, welche Ziele dieser Fürst wohl verfolgte.
Zweifelhafte Gastfreundschaft
Während des restlichen Abendessens fanden nur noch belanglose Gespräche statt. Später trat ein begnadeter Barde auf und gab einige Balladen zum besten. Eric schien es, als würde dieser Barde auch die lustigen Lieder mit einem melancholischen Unterton versehen und bedauernd in Richtung Melissa schauen. Fürst Atan schickte ihn schließlich fort. „Wenn dieser Korben nicht so ein außergewöhnlich talentierter Barde wäre, hätten Wir ihn schon längst von Unserer Residenz jagen lassen. Er verdirbt Uns immer die gute Laune“, sagte der Fürst lachend, als der Barde auf dem Weg nach draußen war, es aber mit Sicherheit noch hören konnte. Im weiteren Verlauf des Abendessens bemerkte Eric, daß der Fürst Melissa von Zeit zu Zeit unauffällig mit gierigen Augen musterte. Als sie schließlich von dem Mahl zu ihren Unterkünften gingen, wies Eric sie darauf hin. „Das war mir auch aufgefallen. Was mir aber viel mehr Sorgen macht, daß ist, wie er auf meine Botschaften reagiert hat. Es sieht so aus, als stecke er mit Manitien unter einer Decke. Wahrscheinlich haben sie ihm das Fürstentum Westhoven versprochen. Das würde jedenfalls erklären, warum er so erschreckt geschaut hat, als ich sagte, daß Fürst Willur noch lebt.“ „Wenn er mit den Wolfsreitern und dem ganzen Pack unter einer Decke steckt“, überlegte Eric, „dann wird er aber sicher nicht wollen, daß wir weitere Fürsten warnen.“ Melissa überlegte einen Moment. Eric hatte recht. Möglicherweise war die Gefahr, in der sie sich befanden, größer, als sie bisher angenommen hatte. Allmählich bekam sie Respekt vor Eric. Er war zwar in vielen Dingen noch unerfahren, aber er hatte einen wachen Verstand und war deutlich mehr als das Muskelpaket, als das sie ihn bisher hauptsächlich angesehen hatte. „Du hast recht“, antwortete sie schließlich, „wir sollten unsere Sachen aus den Gästezimmern holen und machen, daß wir hier wegkommen.“ Während dieser Unterhaltung waren sie bereits an dem grünen Gästehaus angekommen. Zu ihrer Erleichterung waren ihre Pferde noch im Schuppen neben dem Haus untergebracht. Ihre Abreise, die eher eine Flucht sein würde, konnte also ohne Verzögerung erfolgen, sobald sie ihre Sachen geholt hatten. Beim Betreten des Hauses versuchten sie, sich möglichst natürlich zu verhalten, um keinen Verdacht zu erwecken. Sie vereinbarten, sich gleich wieder vor ihren Zimmern zu treffen, wenn sie ihre Sachen in die Satteltaschen verstaut hätten.
Melissa betrat leise ihr Zimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zugezogen, wie sie irritiert und alarmiert feststellte. Denn sie wußte, daß sie bei ihrem Weggang noch offen waren. Leise griff sie zu ihrem Schwert, das sie auch bei dem Essen mit dem Fürsten dabeigehabt hatte. Mit gezückter Klinge näherte sie sich dem Fenster und zog mit einem Ruck den Vorhang zur Seite. Aber statt des Angreifers, den sie erwartet hatte, rieselte nur feiner Staub auf sie herab. Sie mußte kurz husten, dann drehte sich alles um sie und sie brach bewußtlos zusammen.
Auch Eric bemerkte, daß der Vorhang in seinem Zimmer zugezogen war. Allerdings packte er erst leise seine Satteltasche und nahm sie über die Schulter. Dann legte er sich auf den Boden und schaute unter dem Vorhang hindurch. Es waren keine Füße zu sehen. Danach schlich er an die Seite des Vorhangs und schaute vorsichtig dahinter. Auch von hier aus konnte er keinen Angreifer sehen. Aber ohne Grund wäre der Vorhang sicher nicht zugezogen worden. Er wollte ihn bereits zur Seite schieben, als sein Blick nach oben fiel. Ein kleiner Holzeimer stand oben auf der Vorhangstange. Vorsichtig reckte Eric sich und griff nach ihm. Dabei bemerkte er zwei Fäden am Eimer. Einer war mit dem Vorhang verbunden. Beim Öffnen würde der Eimer heruntergerissen werden. Der andere Faden verband den Boden des Eimers mit der Vorhangstange. Der Eimer würde demnach nicht herunterfallen, sondern nur seinen Inhalt auf denjenigen schütten, der den Vorhang öffnete. Mit seinem Schwert durchtrennte Eric die Fäden und holte vorsichtig den Eimer herunter. Ein graues Pulver war darin. Was immer der Sinn dieses Pulvers war, es war bestimmt eine Teufelei. Er mußte Melissa warnen. Aber wahrscheinlich wartete sie bereits vor der Zimmertür auf ihn. Als er die Tür leise öffnete, stürmten ihm bereits zwei Wachen entgegen. Geistesgegenwärtig warf Eric das Pulver aus dem Eimer auf sie. Die Wachen taumelten und brachen zusammen. Allerdings kamen bereits weitere Wachen durch den Korridor. Und auch zwei Bogenschützen hatten sich etwas abseits aufgestellt und schossen Pfeile in das Zimmer. Eric sprang zurück. Die Tür konnte er nicht schließen, weil die ersten beiden Wachen im Weg lagen. Kurz darauf stürmten bereits die nächsten Soldaten in das Zimmer. Zwar konnte Eric sie zunächst mit seinem Schwert auf Distanz halten, es war allerdings unwahrscheinlich, daß er sich durch den Gang würde kämpfen können. Inzwischen waren auch die beiden Bogenschützen im Türrahmen erschienen und zielten auf ihn. Da sie nicht ihre eigenen Kameraden treffen wollten, zögerten sie allerdings noch und warteten auf freies Schußfeld. Dann flog ein Pfeil auf Eric zu, traf allerdings nur die Satteltasche, die er über die linke Schulter gehängt hatte. Eric sprang auf die Fensterbank und schaute nach draußen. Einem erneuten Pfeil konnte er gerade noch ausweichen, verlor dabei jedoch seine Balance und fiel gegen das Fenster. Das Glas zerbarst und er stürzte mit dem Glas in die Tiefe auf den Fluß zu. Zusammen mit den Glassplittern schlug Eric im Wasser auf, hinterließ darin eine rote Blutspur und verschwand in den Stromschnellen.
Melissa erwachte mit einem leichten Schwindelgefühl. Zunächst erinnerte sie sich nicht, wo sie sich befand. Als sie sich an den Kopf fassen wollte, bemerkte sie, daß es nicht ging. Verwirrt schlug sie die Augen auf und stellte fest, daß sie sich in einem Kerker befand. Sie war auf einer Liege festgeschnallt und konnte nur den Kopf drehen. Etwas entfernt stand ein grobschlächtiger Mann mit dem Rücken zu ihr und entfachte ein Kohlenfeuer. Er summte dabei irgend eine Melodie, wobei er es mit den Tönen nicht so genau nahm. Schließlich drehte er sich um und schaute Melissa mit einem unsympathischen Grinsen an. „Na, ist unsere kleine Amazonenschlampe aufgewacht?“, fragte er mit einem ausgesprochen gehässigen Unterton. Er trat ganz dicht an sie heran und entblößte zwei Reihen gelber Zähne. Sein schlechter Atem verursachte Melissa einen Brechreiz. „Ist schon ziemlich lange her, daß ich eine Spionin aus Kartun ‚befragen’ durfte.“ Dann überlegte er einen Moment und stellte die Liege, auf der Melissa festgeschnallt war, so auf das Fußteil, daß sie aufrecht in den Fesseln hing. „Wir wollen ja schließlich, daß du dich gut umsehen kannst“, kommentierte er seine Handlung. „Ich zeig’ dir schon mal, was ich hier an nettem Spielzeug für dich habe“, meinte er und schob einen Tisch heran, auf dem allerlei Folterwerkzeuge lagen. Und er begann, ihr seine „Spielzeuge“ in allen Einzelheiten zu erklären. Einen besonderen Faible schien er für Zangen und Quetschen zu haben, deren verschiedene Vorteile und Einsatzmöglichkeiten er ihr plastisch schilderte. „Diese Zange hier kann ich auch vorher zum Glühen bringen, denn der Griff mit Holz verkleidet. Schließlich soll ja nicht ich mich daran verbrennen.“ Es war offensichtlich, daß Folterknecht für ihn nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung war. „Wir können das ja gleich mal ausprobieren. Ich weiß zwar nicht, was ich dich dabei fragen könnte, aber diese Fragerei ist für mich sowieso nur lästiges Beiwerk.“ Er ging mit der Zange zum Feuer und legte sie hinein. Melissa zerrte an ihren Fesseln, konnte sich aber nicht rühren. Der Folterknecht schaute sich um und amüsierte sich über ihre Bemühungen. „Ja, zerr nur ordentlich an deinen Fesseln“, kommentierte er grinsend ihre erfolglosen Befreiungsversuche, „ich habe mir schließlich auch Mühe gegeben, dich gut festzubinden. Wäre doch schade, wenn du es jetzt gar nicht würdigen würdest.“ Dann wandte er sich wieder seiner Zange zu, die allmählich eine dunkelrote Farbe annahm. „Du feiges Schwein“, zischte Melissa wütend, „wenn ich nicht gefesselt wäre, würdest du dich nicht einmal trauen, mich auch nur anzusehen.“ Sein Grinsen wurde nur noch breiter. „Das hört sich jetzt für mich ja fast so an, als hättest du Angst vor meinem kleinen Spielzeug“, antwortete er vergnügt und fuchtelte mit der Zange herum, deren Farbe an der Spitze schon hellrot war. „Schimpf ruhig weiter“, meinte er, als er mit dem glühenden Folterwerkzeug in der Hand auf sie zukam. „Ich finde das viel spannender, als wenn du einfach nur schreist. Die meisten meiner ‚Gäste’ sind ja so einfallslos.“ Bei diesen Worten hielt er ihr die Zange direkt vor ihr Gesicht. Sie konnte die Hitze deutlich spüren, die von dem glühenden Metall ausging.
Melissa war verzweifelt und wütend zugleich. Sie spuckte dem Folterknecht ins Gesicht. Dieser war so verblüfft, daß er vor Schreck die glühende Zange fallen ließ. Als sie ihm dabei das Bein berührte und leicht versengte, fluchte er wütend und humpelte zu einem Eimer mit Wasser, in dem er die Brandwunde kühlte. Obwohl Melissa klar war, daß er sich mit Sicherheit dafür rächen würde, konnte sie ein Lachen der Genugtuung nicht unterdrücken. Er bedachte sie nur mit einem wütenden Blick. Nachdem der Schmerz bei ihm offenbar nachgelassen hatte, schnappte er sich einen schmutzigen Lappen und drückte ihn Melissa brutal in den Mund. Den Lappen stopfte er soweit in ihren Rachen, daß sie würgen mußte, was er mit einem bösen Grinsen quittierte. Dann hielt er wieder die Zange ins Feuer und brachte sie zum Glühen. Entschlossen humpelte er anschließend mit dem fast weiß glühenden Folterwerkzeug auf Melissa zu. Als er sie fast erreicht hatte, ging die Tür zum Verlies auf und Fürst Atan trat ein. Er räusperte sich und der Folterknecht zuckte zusammen. „Was soll das?“, fragte er Fürst sehr leise und drohend. „Wir haben dir doch gesagt, daß du sie nicht anrühren sollst. Zumindest jetzt noch nicht.“ „Natürlich, mein Fürst“, kam es von dem Folterknecht wie von einem geprügelten Hund, „ich wollte ihr nur etwas Angst machen.“ „Trödel nicht herum. Triff lieber die anderen Vorbereitungen. Du weißt, was du nachher zu tun hast. Später, wenn Wir an ihr die Lust verloren haben, kannst du dich so viel mit ihr beschäftigen, wie du willst.“ An Melissa gewand sagte er mit gespieltem Bedauern, während der Folterknecht den Kerker verließ: „Es ist heutzutage so schwierig, geeignetes Personal zu finden.“ „Wir nehmen an“, fuhr er fort, „du fragst dich jetzt, was Wir mit dir vorhaben. Oder glaubst du vielleicht, daß Wir dich foltern werden, um Informationen über Kartun oder die Wolfsreiter zu bekommen? Es ist allerdings gar nicht nötig, dich zu befragen, denn Wir wissen bereits alles, was du Uns erzählen könntest. Die manitische Armee hat mit 10 Trollen, 50 Wolfsreitern und 200 Soldaten Westhoven überfallen und eingenommen.“ Melissa bemerkte überrascht, daß Fürst Atan die wahre Truppenstärke der Angreifer offenbar gar nicht kannte. „Der König von Manitien hat nämlich einen Handel mit Uns abgeschlossen. Er erobert Westhoven und Fendrich. Westhoven überläßt er Uns als Gegenleistung dafür, daß Wir Westhoven nicht – wie vertraglich vereinbart – beistehen. Außerdem unterstützen Wir die manitische Armee beim Angriff auf Fendrich, das deinem Begleiter so am Herzen zu liegen schien.“ Der Fürst grinste triumphierend. „Oder dachtest du, Uns wäre das entgangen?“ Schlagartig wurde Melissa klar, warum Fürst Atan die wahre Truppenstärke der angreifenden Armee nicht kannte. Der Verräter würde selbst verraten werden. Die manitische Armee würde als nächstes Falibor angreifen, das sich in falscher Sicherheit glaubte. Trotz des brutalen Knebels huschte bei diesem Gedanken ein Lächeln über ihr Gesicht. „Du machst dir wohl Hoffungen, dein muskulöser Begleiter würde dich retten“, mißverstand der Fürst ihr Lächeln. „Das wird ihm ziemlich schwer fallen, denn er ist bereits tot.“ Es versetzte Melissa einen Stich, daß Eric tot sein sollte. Zum einen, weil er ihre einzige Hoffnung auf Rettung gewesen war, zum anderen aber auch, weil sie ihn inzwischen nicht nur als guten Kämpfer, sondern auch als umsichtigen Begleiter – sie zögerte gedanklich, das Wort Freund zu benutzen – schätzen gelernt hatte. Oder belog Fürst Atan sie? Aber welchen Grund sollte er dafür haben. Um ihr die Hoffnung zu nehmen? Aber dafür war sein Gesichtsausdruck zu überheblich. Für sie sah die Zukunft jedenfalls ziemlich düster aus. Damit wanderten ihre Gedanken zurück zu den Worten, die der Fürst zum Folterknecht gesagt hatte. Er hatte noch etwas mit ihr vor, bevor er sie dem grobschlächtigen Kerl überantworten würde. Aber was würde das sein? Natürlich, so gierig wie er sie auch jetzt wieder ansah, würde er sich mit ihr vergnügen wollen. Aber seine Pläne für sie hatten vorhin irgendwie bedrohlicher geklungen.
Entsetzliche Pläne
Während Melissa noch grübelte, was dieser finstere Fürst ihr antun wollte, betrat der Folterknecht wieder das Verlies. „Es ist alles nach Euren Wünschen vorbereitet“, meldete er und schaute dabei Melissa in einer Weise an, daß es ihr eiskalt den Rücken herunterlief. „Dann trag sie in die Werkstatt“, antwortete Fürst Atan, während sich auch auf seinem Gesicht ein gehässiges Grinsen breitmachte. „Wir möchten, daß sie genau sieht, was sie erwartet.“ Melissa verzog keine Miene. Sie wollte ihm auf keinen Fall die Genugtuung gönnen, Angst bei ihr zu entdecken, obwohl ihr ziemlich mulmig zumute war. Der Fürst zuckte mit den Schultern und verließ den Raum. Und der Folterknecht nahm Melissa mitsamt der Liege, auf die sie gebunden war und trug sie in die Werkstatt. Dort sah sie zunächst nur eine Vielzahl gebogener Metallteile in den unterschiedlichsten Formen. An einer Wand stand ein Nagelbrett mit langen, spitzen Nägeln – für schmerzhaftes Dahinscheiden, wie der Folterknecht auf ihren nervösen Blick hin erklärte. Der Fürst schaute seinen Spezialisten für hochnotpeinliche Befragungen irritiert an. „Wo ist denn meine geschätzte Tante Larissa?“, wollte er wissen. „Sie wird sofort gebracht“, beeilte sich der Folterknecht zu antworten. „Eigentlich müßte sie schon da sein.“ In diesem Moment wurde wieder die Tür der Werkstatt geöffnet und vier kräftige Männer schafften eine Metallkonstruktion herein. Mit Verwirrung begriff Melissa, daß die Metallkonstruktion die Form einer Frau in einer ziemlich obszönen Position darstellte. Und dann erkannte sie mit Entsetzen, daß zwischen den Beinen dieser Metallfrau die Scham einer lebenden Frau zu sehen war. Es mußte also offensichtlich jemand in dieser Metallskulptur stecken. Ihr echter Busen war ebenfalls zu sehen. „Dürfen Wir dir Unsere Tante Larissa vorstellen?“, verbeugte sich der Fürst gekünstelt vor Melissa. „Sie ist die Frau Unseres so plötzlich verstorbenen Onkels Woltar und war so nett, Uns auf allerlei Weise über den Schmerz seines überraschenden Todes hinwegzuhelfen.“ Dieses Monstrum, dachte Melissa, hat also nicht nur seinen Onkel ermordet, sondern auch noch dessen Frau in ein hautenges Metallgefängnis eingesperrt und sich danach an ihr vergangen. Und damit begriff sie auch, was der Fürst mit ihr vorhatte. Diesmal gelang es ihr nicht, das Entsetzen von ihrem Gesicht zu verbannen. Und Fürst Atan freute sich diebisch über ihre Reaktion.
„Wir sehen, du hast bereits begriffen, welches Schicksal dich erwartet.“ „Unsere Tante“, er deutete dabei auf die Metallkonstruktion, „ist Uns – ehrlich gesagt – in letzter Zeit etwas langweilig geworden. Aber Wir sind sicher, daß du Uns in nächster Zeit etwas Abwechslung bescheren wirst.“ Er drehte sich um und klopfte auf die Nieten, die die Teile des Metallgefängnisses zusammenhielten. „Dieser Teil der Konstruktion gefällt Uns noch nicht so richtig. Deshalb haben Wir befohlen, die nächste ‚Skulptur’ nahtlos herstellen zu lassen. Das hat außerdem den Vorteil, daß nicht einmal ein Kunstschmied in der Lage wäre, dich lebend aus diesem Verlies zu befreien.“ Er weidete sich ganz offensichtlich an Melissas Entsetzen. Und auch der Folterknecht strahlte bis über beide Ohren. „Aber mach dir deshalb keine Sorgen“, fuhr der Fürst gönnerhaft fort, „es wird sowieso niemanden geben, der dich je befreien könnte.“ „Wenn Wir das Interesse an dir verlieren, überlassen Wir dich den erfahrenen Händen unseres begabten Fedor“, erklärte er ihr und deutete auf den Folterknecht, der sich auf diesen Tag besonders zu freuen schien. „Sobald du Uns mit all deinen Möglichkeiten ‚willig’ zur Verfügung stehst, wird Fedor sich erst einmal meiner Tante widmen.“ Er klopfte auf den Kopf der Metallkonstruktion. „Wir hoffen, du freust dich schon darauf, Tante Larissa.“ Dann wandte er sich wieder Melissa zu. „Wir verlassen dich jetzt erst einmal. Später, wenn die letzten Teile deiner neuen Metallbekleidung angebracht und das Ganze nahtlos und endgültig verschlossen wird, werden Wir wieder anwesend sein.“ An Fedor gewandt ergänzte er noch leise: „Unterstehe dich, dein Werk bereits zu vollenden, bevor ich wieder zugegen bin.“ „Und ich will, daß ihr Körper“, er deutete auf Melissa, „in makellosem Zustand ist, wenn er für immer im Metall verschwindet.“ Melissa angrinsend, kniff er fest in die Brust seiner Tante, die das mit einem gedämpften Schmerzlaut aus dem Metallgefängnis quittierte und verließ lachend die Werkstatt.
Melissa bedachte ihn gedanklich mit allen Flüchen, die ihr einfielen. Leider ließen sich keine davon in die Realität umsetzen. Fedor kam auf sie zugehumpelt. Sein Bein schmerzte offenbar noch immer. „Da du nachher keinen so guten Überblick mehr hast, zeige ich dir besser jetzt schon, wie es weitergeht.“ Er nahm zwei Halbrohre von einem Tisch und hielt sie vor ihr Gesicht. „Ich hatte dich schon ausgemessen, als du noch bewußtlos warst. Das hier wird zusammen deinen rechten Unterschenkel umschließen. Und auf die folgende Konstruktion bin ich besonders stolz.“ Er legte die beiden Hälften zusammen, so daß sie ein Rohr bildeten. „Wenn die Teile zusammengefügt sind, entstehen hier innen Hohlräume. In die fülle ich nachher geschmolzenes Eisen. Dadurch werden beide Teile untrennbar miteinander verschweißt. Von außen ist dann nur noch ein kleiner Grad an der Einfüllstelle zu sehen, den ich abfeilen werde. Es wird danach keinen Hinweis mehr geben, daß es früher zwei Halbrohre waren.“ Melissa wäre es lieber gewesen, er hätte diesen Erfindungsreichtum bei der Verlegung von Wasserrohren an den Tag gelegt. Aufgrund des Knebels konnte sie ihm allerdings nicht einmal diese freche Antwort geben. „Auf die gleiche Weise verbinde ich nachher alle Teile miteinander“, fuhr er fort. „Es wird keine Möglichkeit mehr geben, deine neue Metallbekleidung zu entfernen, ohne dich dabei umzubringen.“ Während dieser Ausführungen überlegte Melissa, daß er sie notgedrungen aus ihrer Fesselung befreien müsse, um sie mit der Konstruktion zu umhüllen. Das könnte ihre Chance für einen Befreiungsversuch sein. Sie begann, wieder Mut zu fassen. „Der Fürst“, setzte Fedor seinen erschreckenden Vortrag fort, „möchte dich ja unversehrt in der Metallverkleidung wissen. Aber wenn er dich später mir überläßt, so wie nachher die ehemalige Fürstin Larissa, werde ich an vielen Stellen Nägel in die Metallhülle treiben.“ Er hielt ihr einige Nägel unterschiedlicher Größe hin. „Ich habe bei ihr schon einige Stellen angezeichnet, die sich besonders dafür eignen.“ Fedor ließ es sich nicht nehmen, ihr genau zu zeigen, wo er nachher bei Larissa die Nägel einschlagen wollte. Und Melissa malte sich aus, wo ihm Nägel besonders gut stehen würden.
Nachdem der Folterknecht einige Vorbereitungen getroffen und ihr noch genau erklärt hatte, in welcher aufreizenden Stellung er sie gefangen halten würde, sagte er ihr, daß es jetzt Zeit würde, mit ihrer Verpackung zu beginnen. Melissa konzentrierte sich darauf, sich bei der ersten, sich bietenden Gelegenheit einen Befreiungsversuch zu starten. Fedor grinste sie nur an. „Du überlegst jetzt sicherlich, wie ich dich in die vielen Metallteile stecken will, ohne dich loszubinden. Das geht natürlich nicht. Dich jetzt loszubinden und zu hoffen, daß ich schon mit dir fertig würde, wäre bei einer Amazonenschlampe wie dir allerdings auch ziemlich leichtfertig.“ Er lachte, als er in ihrem Gesicht sah, daß sie genau das überlegt hatte und sich ertappt fühlte. „Und deswegen“, fuhr er in zuckersüßem Tonfall fort, „muß ich wohl dafür sorgen, daß du bewußtlos bist. Das könnte ich jetzt zum Beispiel mit dem Pulver machen, das dich bereits in deinem Zimmer betäubt hatte. Aber wo bliebe denn dann der Spaß für mich.“ Er genoß es, ihren alarmierten Gesichtsausdruck zu studieren. „Ich werde das Pulver benutzen, aber erst, nachdem du bereits bewußtlos bist. Nicht, daß du mir vor der Zeit aufwachst.“ Er holte einen Lederlappen und weichte ihn einige Zeit in einem Eimer Wasser ein. Dann kam er mit dem nassen Lappen auf sie zu und deckte damit ihren Mund und den darin befindlichen Knebel ab, so daß sie nur noch durch die Nase atmen konnte. „Na, hast du schon begriffen, was ich jetzt tun werde?“, fragte er, obwohl er natürlich keine Antwort erwartete. „Genau“, beantwortete der seine Frage selbst, „ich werde dich solange am Atmen hindern, bis du ohnmächtig wirst.“ „Es ist gar nicht so einfach, das richtig zu dosieren“, erklärte er ihr genüßlich. „Meine ersten ‚Versuchsobjekte’ sind dabei leider gestorben oder nur noch als brabbelnde Idioten aufgewacht. Aber für sie hatte Fürst Atan ohnehin keine Verwendung mehr.“ Er lachte, während er Melissas angewidertes und fassungsloses Gesicht betrachtete. „Aber keine Angst, du wirst es überleben. Ich werde nicht riskieren, dem Fürsten seinen Spaß zu verderben.“ Melissa atmete panisch so viel Luft durch die Nase ein, wie sie nur bekommen konnte. Durch den Mund konnte sie nicht mehr atmen, seit Fedor ihr den Lappen über den Knebel gedrückt hatte. Belustigt beobachtete er sie dabei. Dann hielt er ihr die Nase zu und wartete. Nach einiger Zeit wurde der Drang, auszuatmen für Melissa unerträglich. Und Fedor lockerte ein wenig den Griff. Ganz langsam ließ er die Luft aus Melissas Lungen durch die Nase ausströmen. Sein widerliches Lachen erfüllte den Kerker, während er ihre weit aufgerissenen Augen sah. Sie versuchte mit aller Kraft einzuatmen, was Fedor ihr mit dem leichten Druck seiner Finger auf ihre Nase unmöglich machte. Nach einiger Zeit lockerte er seinen Griff wieder und sie sog gierig die Luft in ihre schmerzenden Lungen. Er wiederholte sein perfides Spiel noch einige Male und weidete sich an Melissas aufkommender Panik. Schließlich, als er sie gerade ganz langsam wieder hatte ausatmen lassen, hielt er ihre Nase fest zugedrückt und wartete. Melissa stellte fest, daß Ersticken auch dann zu Panik führt, wenn man versucht, ganz entspannt dabei zu bleiben. Sie riß an ihren Fesseln und bäumte sich auf. Es half allerdings nichts. Langsam trübte sich ihr Blick und sie verlor das Bewußtsein.
Als sie schließlich wieder zu sich kam, war sie bereits nackt in der Stellung fixiert, die sie nach dem Willen des Fürsten bis zum Ende ihres Lebens beibehalten sollte. Ihre angewinkelten und gespreizten Beine steckten schon in der Metallverkleidung. Und auch ihre Arme konnte sie nicht mehr bewegen. Sie konnte allerdings sehen, daß die Metallteile noch mit Drähten und Spangen zusammengehalten wurden. Aber auch so hatte sie keine Chance mehr, sich daraus zu befreien. „Schön, daß du endlich wieder aufgewacht bist“, scherzte Fedor. „Dann kann ich ja dem Fürsten Bescheid geben, daß er jederzeit kommen und deinem endgültigen Verschluß beiwohnen kann.“ Während Fedor die Werkstatt verließ, um dem Fürsten auszurichten, daß alles für ihn bereit sei, stemmte Melissa sich noch einmal mit der Kraft der Verzweiflung gegen ihre Fixierung. Erreichen konnte sie damit allerdings nichts. Es gab keine Möglichkeit für sie, ihr Schicksal abzuwenden. Schließlich kam Fedor vergnügt wieder. „Der Fürst wird in Kürze hier sein. Und er bringt noch vier Leute seiner Leibgarde mit, die dich anschließend in deiner ‚endgültigen Form’ in seine Gemächer bringen.“ Er wandte sich um, zu der eingeschlossenen Larissa und klopfte gegen ihre Gesichtsabdeckung. „Danach haben wir beide dann sehr viel Zeit, uns mit einander zu beschäftigen.“ „Na ja“, ergänzte er, „hauptsächlich wohl ich mit dir.“ Dann legte er Melissa einen breiten Lederriemen um die Taille. „Der Fürst möchte, daß du für ihn eine Wespentaille hast“, erklärte er dabei und begann, den Riemen immer enger zu ziehen. „Du wirst zwar später nicht mehr richtig tief ein- und ausatmen können, aber du brauchst in Zukunft ja auch nicht mehr schwer zu arbeiten“, lachte der Folterknecht.
Inzwischen war der Fürst mit vier Soldaten seiner Leibwache eingetreten. Er beugte sich zu Melissa herab und sagte lächelnd: „Es erfüllt Uns mit Stolz, daß du soviel Mühen auf dich nimmst, um Uns zu gefallen.“ Dann wandte er sich Fedor zu, der mit dem Verschnüren innegehalten hatte. „Fahr fort, ich brenne darauf, das Meisterwerk vollendet zu sehen.“ Melissa keuchte. Sie konnte nur noch flach atmen und spürte, wie sie von einem Schwindelgefühl erfaßt wurde. Dann legte Fedor ihr die entsprechenden Eisenschalen um die Taille und fixierte sie mit einer Spange. Stück für Stück umhüllte er Melissa mit Metall. Nur ihre Scham und ihre Brüste blieben frei. Zum Schluß legte er ihr eine Art Helm an. Ihre langen Haare führte er dabei nach draußen. Lediglich ihr Gesicht war noch freigeblieben. Dann entfernte er ihr den schmutzigen Lappen, um sofort ihre Kiefer mit einem eisernen Einsatz auseinanderzuhalten. Er hatte bereits eine Gesichtsmaske in der Hand, die nur kleine Öffnungen für die Nasenlöcher und eine größere Öffnung für ihren Mund hatte. „Moment“, wandte Fürst Atan ein, als Fedor ihr die Maske einpassen wollte. Er beugte sich noch einmal direkt über Melissas Gesicht. „Schau dir Unser Gesicht gut an. Denn es wird das letzte sein, was du in deinem Leben siehst.“ Eine Mischung aus Haß und Panik war in Melissas weit aufgerissene Augen geschrieben. Der Fürst sog diesen Anblick förmlich in sich auf. „Wenn Wir kein Interesse mehr an dir haben, darf unser begnadeter Fedor dich zu Tode foltern. Aber mach dir keine Sorgen, er wird sich dabei viel Zeit nehmen.“ Dann gab er Fedor ein Zeichen, ihr die Maske auf das Gesicht zu setzen. Um Melissa herum wurde es dunkel. Sie hörte, wie der Folterknecht dem Fürsten noch einmal voll Stolz und in aller Ausführlichkeit die Funktionsweise der dauerhaften Verbindung der einzelnen Metallteile erklärte. Schließlich wurde es dem Fürsten zu lang und er befahl Fedor, sein Werk endlich zum Abschluß zu bringen. Dieser meinte, daß das flüssige Eisen noch nicht heiß genug sei, es aber jeden Moment soweit sein würde.
Unmittelbar danach hörte Melissa, wie jemand atemlos in die Werkstatt hineingestürmt kam. Der Fürst reagierte ungehalten und fragte den Ankömmling, wieso er es wage, ihn hier zu stören. „Wir werden angegriffen“, war die gehetzte Antwort des Boten. „Mit den Überresten der Armee von Willur werdet ihr doch wohl auch alleine fertig“, gab der Fürst ungehalten zurück. „Es ist nicht die Armee von Fürst Willur aus Westhoven. Es sind Wolfsreiter, Bergtrolle und eine gut gerüstete Armee mit Katapulten“, stieß der Bote hervor. Für einen Moment herrschte Stille. „Das kann nur ein Mißverständnis sein“, murmelte Fürst Atan. „Ihr kommt mit“, sagte er dann laut. „Und du wartest – ach was, du beendest dein Werk hier. Wenn ich das Mißverständnis geklärt habe, will ich mich mit meinem neuen Spielzeug vergnügen.“ Melissa hörte, wie mehrere Leute die Werkstatt verließen. Dann waren nur noch die Schritte von Fedor zu hören. „So, jetzt ist auch das Eisen flüssig genug. Dann wollen wir mal.“ Ein ohrenbetäubendes Poltern erfüllte den Raum, dann hörte sie einen lauten Schrei, ein erneutes Poltern und ein ersticktes Röcheln. Danach kehrte wieder Ruhe ein. Melissa versuchte zu begreifen, was gerade geschehen war, aber es ergab für sie keinen Sinn. Dann spürte sie etwas warmes in ihrem Schritt. Aber es war keine Berührung. Eher wie die Ausstrahlung einer Hand, kurz bevor sie die Haut berührt. Wollte der Folterknecht sich noch schnell an ihr vergehen, bevor er sie dem Fürsten übergab? Oder hatten die Wolfsreiter die Residenz bereits eingenommen und bereiteten jetzt eine Teufelei mit ihr in ihrer hilflosen Lage vor? Sie rechnete jedenfalls nicht damit, daß ihr durch die manitischen Truppen ein besseres Schicksal bevorstand als das, was Fürst Atan ihr zugedacht hatte.
Willkommene Hilfe
Als Eric im eiskalten Wasser aufschlug, war es für ihn zunächst wie ein Schock. Zusätzlich schmerzte ihn noch eine stark blutende Kopfwunde, die ihm ein Glassplitter im Wasser zugefügt hatte. Kurz vor seinem Eintauchen hatte er instinktiv noch einmal tief Luft geholt. So langsam wurde ihm allerdings der Atem knapp. Und da er nicht schwimmen konnte und ihm die reißende Strömung auch keine Möglichkeit gab, am Ufer einen Halt zu finden, war seine Lage ziemlich verzweifelt. Er zwang sich, die Augen unter Wasser aufzumachen und sah, wie er auf den Pfeiler einer Brücke zugetrieben wurde. Kurz davor kam er allerdings in einen Wirbel und wurde in den Uferbereich der Brücke gedrückt, in dem die Strömung deutlich schwächer war. Jetzt kam er auch endlich wieder mit dem Kopf über Wasser und holte keuchend Luft. Ein Mann stand am Ufer und streckte ihm die Hand entgegen. „Schnell jetzt, gleich kommen die Soldaten. Greif meine Hand.“ Ohne lange nachzudenken, ergriff Eric die angebotene Hand mit seiner linken, da die rechte noch immer sein Schwert umklammerte, und zog sich daran aus dem Wasser. Fast hätte er seinen Retter dabei mit ins kalte Naß gerissen. „Komm schnell hier in den Gang“, raunte ihm der Mann zu und ging voraus. Eric folgte ihm, war aber auf der Hut. Er wollte nicht erneut in eine Falle laufen. Andererseits hätte sein Retter ihn auch einfach der Strömung überlassen können, wenn er seinen Tod gewollt hätte. Als sie den Gang betreten hatten, schloß der Fremde schnell aber vorsichtig die Tür. Eric musterte seinen Retter jetzt genauer. Es war Korben, der Barde, der vorhin beim Abendessen die traurigen Weisen gespielt hatte. „Weißt du, was mit deiner Begleiterin passiert ist?“, wollte der Barde von ihm wissen. „Nein“, antwortete Eric, „es war eine Falle. Und als ich sie entdeckt hatte, wurde ich angegriffen. Von Melissa habe ich nichts gesehen.“ Korben schaute traurig drein. „Dann haben sie sie überwältigt oder betäubt“, meinte er. „Und so, wie ich diesen Thronräuber von Atan einschätze, wird er ihr das gleiche antun wollen, wie der Fürstin.“ Eric verstand kein Wort. Und Korben erzählte ihm, was Atan der Fürstin Larissa, angetan hatte, nachdem er ihren Mann, den rechtmäßigen Fürsten Woltar hatte ermorden lassen. Er, Korben, mußte mehrfach für musikalische Untermalung sorgen, wenn Atan sich mit der in Metall verschlossenen Larissa vergnügt hatte.
Eric wollte aufspringen und Melissa zu Hilfe eilen, aber Korben bremste ihn. „Du kannst es nicht mit der ganzen Leibgarde von Atan aufnehmen. Außerdem wird deine Begleiterin jetzt bewußtlos sein. Aber ich weiß, wo sie sie hinbringen werden. Mich hält hier jeder für einen harmlosen Schwächling – was auch stimmt. Denn ich bin weder stark, noch kann ich mit Waffen umgehen. Deswegen nimmt niemand Notiz von mir und ich kann mich überall frei bewegen.“ Er überlegte einen Moment. „Auf direktem Weg kann ich dich allerdings nicht hinführen. Im Gegensatz zu mir würdest du sofort Aufsehen erregen. Hast du eigentlich deine Ausrüstung retten können?“ „Bis auf mein Schild und mein Langschwert habe ich alles dabei“, antwortete Eric. „Gut“, meinte Korben mit einem Blick auf Erics Schwert, „denn an Waffen und solche Dinge komme ich nicht heran.“ Korben ging tiefer in den Gang hinein und bedeutete Eric, ihm zu folgen. Nach einiger Zeit endete der Gang, und Korben erklärte, daß es zu gefährlich sei, wenn Eric sich jetzt zeigen würde. „In einer Stunde ist es dunkel. Dann hole ich dich hier ab und führe dich in ein Haus, in dem dich niemand suchen wird. Ich schaue mich inzwischen um, was mit deiner Begleiterin passiert ist und wo sie gefangen gehalten wird.“ Es behagte Eric gar nicht, jetzt tatenlos herumsitzen zu müssen. Und er fragte sich, ob er Korben wirklich vertrauen könne. Aber er hatte keine andere Wahl. „Hast du Verbandszeug dabei?“, wollte Korben noch von ihm wissen. „Deine Kopfverletzung blutet nämlich stark und du hinterläßt eine Blutspur, wo immer du entlang läufst.“ Die Kopfwunde von dem Glassplitter hatte er völlig vergessen. Er griff in seine Satteltasche und nahm etwas ungefärbten Stoff heraus, faltete es mehrfach und legte es sich wie ein Stirnband um den Kopf. Korben schaute ihn zweifelnd an, zuckte dann aber mit den Schultern. „Zumindest hat der Fluß deine Wunde schon ausgewaschen.“ Dann lauschte er einen Moment an der Wand, betätigte einen verborgenen Schalter und öffnete eine Geheimtür. „Warte auf mich und verhalte dich ruhig“, raunte Korben Eric noch zu und verschwand, die Geheimtür leise hinter sich schließend.
Die tatenlose Zeit in dem Geheimgang kam Eric endlos vor. Geduld war nicht gerade seine starke Seite. Dann endlich hörte er Schritte und mehrere Stimmen. Es waren Soldaten. „Habt ihr ihn gefunden?“ „Nein, Herr Leutnant, er ist nicht mehr aufgetaucht. Wir haben den ganzen Flußlauf bis zum Wehr abgesucht. Ohne Hilfe hätte er auch das Flußbett nicht verlassen können.“ „Mist. Das wird dem Fürsten nicht reichen. Sucht noch einmal alles ab. Und wenn ihr wieder nichts findet, behauptet ihr, daß ihr ihn tot auf dem Fluß habt treiben und das Wehr hinunterstürzen sehen. Sonst verbringen wir noch tagelang mit der Suche nach der Leiche.“ „Jawohl, Herr Leutnant.“ Die Stimmen wurden wieder leiser und die Schritte entfernten sich. Man hielt ihn also für tot. Das konnte ihm nur recht sein. Wegen eines Toten verstärkt man keine Wachen. Hoffentlich kam dieser Korben bald. Schließlich hörte er erneut Schritte. Diesmal waren sie allerdings leiser und nur von einer einzelnen Person. Die Geheimtür öffnete sich und Korben erschien. Eric hatte sicherheitshalber zum Schwert gegriffen, ließ es aber wieder sinken. „Hier“, sagte Korben und warf Eric einen Umhang zu. „Damit du nicht mehr Aufsehen erregst, als unbedingt nötig.“ Eric warf sich den Umhang über die Schultern und ließ seine Satteltasche und das Schwert darunter verschwinden. Dann folgte er Korben durch die nächtliche Residenz. Ihm lagen viele Fragen auf der Zunge, insbesondere, was Korben bezüglich Melissa herausgefunden hatte. Aber Korben ging zügig und schweigsam voraus und hielt sich dabei wann immer möglich im Schatten der spärlichen Laternen auf. Schließlich kamen sie an einem ziemlich verfallenen Gebäude an. „Früher war das einmal ein Getreidespeicher. Aber nachdem sich hier Ratten eingenistet hatten, wurde er aufgegeben.“ Korben grinste Eric an. „Keine Angst, seit es hier kein Getreide mehr gibt, sind auch die Ratten wieder verschwunden.“
In einem abgelegenen Raum des Speichers erzählte Korben dann, was er in Erfahrung gebracht hatte. Seine Befürchtung traf zu. Melissa wurde gefangen gehalten und der Thronräuber Atan – Korben nannte ihn nie Fürst – wollte sie genau wie die frühere Fürstin zu seinem eisernen Lustobjekt machen. „Auf direkten Weg“, fuhr Korben fort, „kommen wir nicht in den Kerker hinein.“ „Oder nur auf eine Weise, bei der wir nicht wieder hinaus kämen“, fügte er mit einem Schmunzeln hinzu. „Du sagtest, ‚auf direktem Weg’“, warf Eric ein, „es gibt also noch einen anderen?“ Korbens Schmunzeln wurde zu einem Grinsen. „So ist es. Das ist auch der zweite Grund, warum ich dich zu diesem Speicher gebracht habe. Er ist nämlich mit einem Netz von Geheimgängen verbunden, die auch in den Kerker führen. Der Fürst – Fürst Woltar, meine ich – kannte sie alle, genau wie seine Frau. Ansonsten gibt es aber nur wenige, die sie kennen. Und sie sind teilweise auch ziemlich eng. Für einen so großen und kräftigen Kerl wie dich noch mehr als für mich. Und manchmal sind die Wände auch sehr dünn. Paß also auf, daß du mit deinem Schwert nicht an der Wand entlangscheuerst, sonst entdeckt man uns vielleicht.“ Korben stand auf, schaute dann noch einmal irritiert auf Eric. „Dein Stirnband ist inzwischen blutrot gefärbt. Blutet Deine Wunde immer noch?“ Eric nahm den Stoff ab. Die Wunde tat zwar noch weh, blutete aber nicht mehr. Dann grinste er und band sich den Stoff wieder als Stirnband um. „Vielleicht sehe ich damit ja gefährlicher aus“, meinte er und griff zum Schwert. Auch Korben grinste und öffnete eine Geheimtür. „Irgendwie habe ich den Eindruck, du bist fröhlicher als am Abend, als du die Balladen vorgetragen hast“, bemerkte Eric. „Stimmt, ich habe jetzt erstmals Hoffnung, daß wir dieses Monster von Atan loswerden oder wenigstens vor ihm fliehen können.“ „Was hatte dich denn hier gehalten“, wollte Eric wissen. „Einerseits hatte Atan die Wachen angewiesen, mich nicht aus der Residenz zu lassen. Obwohl ich das vielleicht mit den Geheimgängen hätte umgehen können. Andererseits wollte ich der Fürstin Mut machen, so oft es ging. Ich habe sie häufig heimlich besucht und ihr gut zugeredet.“ Etwas leiser schob er noch hinterher: „Sie war früher wie eine Mutter zu mir.“ „Du hoffst, daß wir auch sie noch befreien können“, bemerkte Eric. „Ich hoffe, daß es nach der langen Zeit ihrer Gefangenschaft noch etwas gibt, was wir befreien können“, antwortete Korben bedrückt.
Zu zweit schlichen sie dann wortlos durch die Geheimgänge. Einige waren breit und bequem zu durchlaufen, andere waren so eng, daß Eric nur seitlich weitergehen konnte und dabei auch nicht zu tief einatmen durfte. Schließlich kam sie zu den Geheimgängen, die in einigen der Kerkerwände verliefen. Korben meinte zu Eric, er müsse jetzt vorausgehen. Später würden die Gänge so schmal werden, daß sie nicht mehr an einander vorbei könnten. Und falls es zum Kampf käme, müßte Eric in der ersten Reihe stehen. Sehr wohl war Eric nicht bei dem Gedanken, durch diese engen und verwinkelten Gänge vorauszugehen. Aber anders würde er Melissa nicht befreien können. Einige Stellen waren wirklich so beklemmend, daß Eric Angst hatte, sich dabei so festzuklemmen, daß er weder vor noch zurück könnte. Schließlich kam er in einer Sackgasse an. Am Ende war eine kleine Öffnung, durch die er in eine Werkstadt sehen konnte. Und er sah, wie Melissa von einem Folterknecht immer weiter in Eisen gehüllt wurde. „Wie komme ich in den Raum vor mir?“, wollte Eric im Flüsterton von Korben wissen. „Unten rechts muß ein kleiner Hebel sein“, antwortete Korben. Eric tastete alles mit der rechten Hand ab, fand aber keinen Hebel. „Er muß weiter unten sein“, raunte Korben ihm zu. Aber weiter nach unten konnte Eric nicht gehen, da seine Knie bereits an die Wand stießen. Er hantierte nervös weiter und versuchte alles, um an den tiefer gelegenen Hebel heranzukommen. Der Folterknecht hatte den Raum inzwischen verlassen und es wäre eine gute Gelegenheit, Melissa jetzt zu befreien. Aber Eric konnte den Hebel nicht erreichen. Und Korben konnte auch nicht an ihn heran, weil Eric ihm im Weg stand. Es war zum Verzweifeln.
Während dessen war der Folterknecht wieder zurückgekehrt und kurz darauf erschienen auch Atan und vier Soldaten. Eric lauschte den Gesprächen und begriff, daß es höchste Zeit wurde, wenn er Melissa überhaupt wieder aus ihrem eisernen Gefängnis befreien wollte. „Läßt sich diese blöde Geheimtür vielleicht mit Gewalt öffnen?“, wollte Eric von Korben wissen. „Keine Ahnung. Ich habe jedenfalls nicht die Kraft dazu“, war die geflüsterte Antwort. Aber Eric durfte auch keinen Lärm verursachen, wenn er nicht bereits von den vier Leibgardisten Atans erstochen werden wollte, bevor er überhaupt aus dem Geheimgang herauskam. Korben meinte, er würde nach einem anderen Ausgang in der Nähe suchen und schob sich langsam in den Geheimgang zurück. Schließlich überbrachte ein Bote Atan die Nachricht, daß Falibor angegriffen wurde und der Fürst verließ mit seiner Leibgarde den Raum. Und Eric sah, wie der Folterknecht sein Werk mit dem flüssigen Eisen vollenden wollte. „Jetzt oder nie“, murmelte Eric und stemmte sich mit aller Kraft und dem Mut der Verzweiflung gegen die Geheimtür. Mit ohrenbetäubenden Poltern brach sie aus der Verankerung und Eric stolperte in die Werkstatt. Der Folterknecht hatte bereits ein Gefäß mit flüssigem Eisen in der Hand und starrte fassungslos auf den großen, muskulösen Eindringling mit dem blutroten Stirnband, der scheinbar durch Wände gehen konnte. Dann fand er seine Fassung wieder und holte mit dem Gefäß aus, um dem Eindringling das geschmolzene Metall entgegenzuschleudern. Eric war allerdings bereits soweit an ihn herangekommen, daß er dem Gefäß mit dem Fuß so einen Stoß versetzen konnte, daß ein Teil des Inhalts dem Folterknecht ins Gesicht spritzte. Der schrie auf und stolperte rückwärts in ein Nagelbrett. Ungläubiges Entsetzen stand auf seinem Gesicht. Überall stießen Nagelspitzen durch seinen Körper. Mit einem Röcheln starb er.
Eric wandte sich Melissa zu. Die Stellung, in der sie fixiert war, hatte wirklich eine stark erregende Ausstrahlung. Wie von selbst wanderte seine Hand auf ihre Scham zu, um dann im letzten Moment innezuhalten. Er riß sich zusammen und dachte an sein unfreiwilliges Bad im kalten Fluß. Das kühlte ihn soweit wieder ab, daß er sich wieder darauf konzentrieren konnte, Melissa zu befreien und sich nach geeignetem Werkzeug umzuschauen. Als er es gefunden hatte, löste er Spange für Spange und Draht für Draht. Er nahm ihr die Gesichtsmaske ab und befreite sie auch von dem Lederriemen um ihre Taille. Melissa taumelte und wäre fast zu Boden gefallen, als Eric die letzten Fixierungen gelöst hatte. Gerade noch rechtzeitig konnte er ihren Sturz abfangen und sie langsam zu Boden gleiten lassen. Nach einiger Zeit konnte sie schließlich – wenn auch etwas wackelig – wieder aus eigener Kraft aufstehen. Erleichtert fiel sie ihm um den Hals. „Ich hatte schon keine Hoffnung mehr.“ Sie seufzte erleichtert. Dann schaute sie sich um und griff nach ihrem Pracht-Harness, der achtlos in einer Ecke lag. „Dort“, sie zeigte dabei auf die eingeschlossene Larissa, „ist auch jemand drin. Und daß wohl schon seit Monaten.“ „Ich weiß“, meinte Eric, während er nach schwererem Werkzeug suchte, um die Nieten von Larissas Eisenummantelung zu entfernen. Schließlich hatte er gefunden, was er brauchte und begann damit, in mühsamer Kleinarbeit Niete für Niete zu entfernen. In diesem Moment kam Korben zur Tür herein. Melissa ergriff einen großen Nagel und war schon im Begriff, ihn auf Korben zu schleudern. „Nicht!“, rief Eric, „Er hat mir geholfen! Ohne ihn wäre ich nie auch nur in deine Nähe gekommen.“ Im letzten Moment änderte Melissa noch die Flugbahn des Nagels und ließ ihn wirkungslos gegen eine Wand prallen. „Tut mir leid“, sagte Melissa zu Korben. „Schon gut“, meinte dieser und fragte an Eric gewandt: „Kannst du ihr auch helfen?“ Er deutete dabei auf die noch eingeschlossene Larissa. „Aus diesem Gefängnis kann ich sie befreien. Aber ich weiß nicht, in welchem Zustand sie darin ist“, gab Eric zurück, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Endlich konnte er auch den letzten Teil der Metallskulptur um Larissa herum entfernen. Larissa sank lautlos zu Boden. Ihre Arme und Beine waren steif, denn ihre Muskeln hatten sich aufgrund der monatelangen Bewegungslosigkeit zurückgebildet. Sie schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen und bot einen erschreckenden Anblick. Eric und Korben versuchten, ihr aufzuhelfen, während Melissa mit Erics Schwert in der Hand aufpaßte, daß keine ungebetenen Besucher kamen. Larissa war allerdings nicht in der Lage, sich alleine auf den Beinen zu halten. Und ihr teilnahmsloser, glasiger Blick verhieß nichts Gutes.
Flucht aus Falibor
„Weißt du, wo meine Ausrüstung ist?“, fragte Melissa an Korben gewandt. „Zwei Räume weiter“, gab dieser zurück. „Allerdings ist der Lagerraum bewacht.“ Melissa wollte noch wissen, wie viele Wachen sich dort aufhielten. Korben hatte nur zwei Wachen bemerkt. Von draußen drang inzwischen Kampflärm zu ihnen in den Kerker. Die Schlacht um Falibor war offenbar bereits in vollem Gange. Melissa gab Eric sein Schwert zurück und schlich sich leise aus der Werkstatt. Kurz darauf kam sie wieder zurück. Sie hatte jetzt ihren normalen Harness an und ihre ganze Ausrüstung dabei. Auch das Schild und das Langschwert von Eric hatte sie mitgebracht. Und einen seltsam perlmutschimmernden Bogen mit einem Köcher voll Pfeilen in der gleichen Farbe. „Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, uns jetzt noch mit Andenken zu behängen“, meinte Eric und deutete auf den Bogen. Melissa grinste. „Dieses ‚Andenken’ ist unter Umständen unsere einzige Chance, mit Verfolgern fertig zu werden“, gab sie zurück. Sie hatte auch für Larissa noch einen schlichten Umhang mitgebracht, so daß diese nicht nackt mitkommen mußte. Dann verließen sie zu viert die Werkstatt. Eric trug Larissa, während Melissa mit griffbereitem Schwert neben ihm herlief. Korben trug die Satteltaschen der beiden und folgte ihnen. Dabei dirigierte er die kleine Gruppe in Richtung eines geheimen Ausgangs außerhalb der Befestigungen Falibors. Dort hofften sie, unbemerkt die Angreifer aus Manitien umgehen zu können.
Als sie an eine Abzweigung eines Ganges kamen, standen sie plötzlich Atan und seiner gesamten Leibgarde gegenüber. Der Thronräuber wollte offensichtlich auch durch den Geheimausgang flüchten. Im ersten Moment waren alle über diese unerwartete Begegnung erschreckt. Eric ließ Larissa zu Boden gleiten, um mit Melissa den Weg durch die Soldaten freizukämpfen. Doch da geschah etwas, das niemand für möglich gehalten hätte. Larissa erhob sich wie von Geisterhand und stürzte auf Atan zu. Dieser schaute sie fassungslos an, zumal ihr Gesicht sich schlagartig in eine haßerfüllte Fratze verwandelt hatte. Und in ihren Augen loderte ein Feuer, daß selbst Eric einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Blitzschnell ergriff sie einen Dolch, den Atan in seinem Gürtel trug und rammte ihn ihrem Peiniger derart in den Unterleib, daß es ihn seine Männlichkeit kostete. Wie von Sinnen stach sie immer wieder mit dem Messer auf ihn ein. Die Leibwache Atans erwachte aus ihrer Erstarrung und griff zu den Waffen. Auch Melissa und Eric hatten jetzt ihre Schwerter in der Hand. Da der Gang so eng war, daß nicht mehr als zwei Soldaten nebeneinander kämpfen konnten, ohne sich gegenseitig zu behindern, konnte die Leibgarde ihre zahlenmäßige Überlegenheit nicht ausspielen. Und im Zweikampf gegen Eric und Melissa hatten selbst diese gut trainierten Soldaten keine Chance. Präzise wie das Werk einer Turmuhr bahnten sich die beiden einen blutigen Weg durch die Gegner. Wenige Minuten später existierte die Leibgarde Atans nicht mehr. Etwas außer Atem drehten sich die beiden Gefährten wieder zu Larissa um. Diese hatte inzwischen von Atan abgelassen, der sich in einer immer größer werdenden Blutlache wand. Angewidert blickte sie auf den sterbenden Thronräuber und auf den Dolch in ihren blutverschmierten Händen. Der Ausdruck grenzenlosen Hasses verschwand allmählich wieder von ihrem Gesicht. Und in dem Maße, in dem der Haß sie wieder verließ, schienen auch ihre Kräfte zu schwinden. Achtlos ließ sie den Dolch neben Atan fallen, der sich noch immer im Todeskampf wand. Sie schwankte zu einer Wand und rutschte langsam an ihr herab. In ihrem Innern schien sich ein Kampf abzuspielen. Die Lethargie, die sie vorher im Griff hatte, rang erkennbar mit etwas anderem um die Vorherrschaft in ihrem Geist. Schließlich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck erneut. Zuerst nur leicht, dann aber immer deutlicher. Sie straffte sich und sah sich mit wachem Blick um.
Sie drehte sich zu Korben. „Habe ich das richtig mitbekommen, daß Falibor angegriffen wird?“, fragte sie ihn mit klarer und fester Stimme. „Ja, meine Fürstin“, antwortete Korben, „und es scheint aussichtslos für Falibor zu sein.“ „Gibt es noch Truppen, die mir loyal gegenüberstehen?“, wollte sie weiter wissen. „Eure frühere Elitetruppe ist an der Außenmauer postiert. Der Thronräuber hatte wohl Angst, sie umbringen zu lassen oder sich offen mit ihnen anzulegen. Er hatte sie nur aus der Residenz verbannt.“ „Wir müssen zumindest versuchen, so viele Menschen wie möglich vor den Angreifern zu retten. Ich brauche zuerst einmal einen Überblick über die Lage“, stellte sie fest. Eric und Melissa hatten verblüfft die Wandlung Larissas vom Opfer über die Rächerin zur Fürstin beobachtet. An sie gewandt sprach die Fürstin weiter: „Ihr habt mich gerettet. Ich danke euch dafür, auch wenn ich euch meine Dankbarkeit leider nicht angemessen zeigen kann. Wenn ihr den Gang dort vorne weiter verfolgt und euch bei Abzweigungen immer rechts haltet, kommt ihr zu einer schmalen Tür mit drei Hebeln. Wenn ihr alle drei betätigt, öffnet sie sich und ihr könnt euch in Sicherheit bringen.“ „Können wir Euch noch dabei unterstützen, Eure Untertanen in Sicherheit zu bringen?“, fragte Eric ohne lange darüber nachzudenken. Die Fürstin schenkte ihm ein dankbares Lächeln. „Wenn ihr wollt, gerne.“ An Korben gewandt fuhr sie fort: „Ich fürchte, du wirst mich tragen müssen. Alleine kann ich noch nicht laufen.“ Korben nahm sie auf und war erstaunt, wie leicht sie war. Durch die Strapazen ihrer langen Gefangenschaft hatte sie offenbar sehr viel Gewicht verloren. Sie dirigierte Korben zurück in die Richtung, aus der sie eben gekommen waren. Melissa und Eric folgten ihnen. Als sie über Atan hinwegstiegen, dessen Todeskampf noch immer nicht zuende war, ließ Eric kurz sein Schwert vorzucken und beendete sein Leiden. „Verdient hatte er den Gnadenstoß nicht“, bemerkte Melissa halblaut. „Das wohl nicht“, antwortete Eric ernst, „aber ich bin kein Folterknecht.“ Melissa musterte ihn aufmerksam, während sie der Fürstin folgten. Er hatte sich innerhalb der letzten Stunden stark verändert. Selbstbewußt war er ja schon immer gewesen, aber er wirkte jetzt ernster und reifer.
Larissa führte sie durch die Geheimgänge zu einem hohen Turm, dessen Treppen sie hinaufstiegen. Von dort sah man das ganze Ausmaß der Schlacht um Falibor. Die Angreifer hatten bereits die äußere Stadtmauer durchbrochen und stürmten gerade erfolgreich die Residenz. Die ehemalige Elitetruppe hatte sich in einem kleineren Turm der Außenmauer verschanzt und würde diesen wohl auch noch eine Weile halten können. Allerdings wurde der Turm von einigen Katapulten unter Beschuß genommen und immer öfter getroffen. In den Straßen der Stadt tobte ein wildes Gemetzel. Allem Anschein nach war es trotzdem vielen Bewohnern gelungen, sich in unterirdische Schutzräume zu flüchten, die Fürst Woltar seinerzeit noch hatte anlegen lassen. Aber auch diese Schutzräume würden dem massiven Ansturm der Belagerer nicht mehr lange standhalten können. „Korben, gehe du durch die breiten Geheimgänge zu den Schutzräumen und bring die Leute in Sicherheit. Wir treffen uns am geheimen Ausgang.“ Korben schaute sie einen Moment lang verwirrt an. „Wir müssen uns trennen“, erklärte sie ihm, „da nur wir beide uns in den Geheimgängen auskennen. Und während du die Leute aus den Schutzräumen in Sicherheit bringst, kümmere ich mich um die Elitetruppe.“ Vorsichtig setzte Korben sie auf dem Boden ab und ging zur Treppe. Noch einmal drehte er sich fragend zu seiner Fürstin um, die ihm freundlich zunickte. Dann machte er sich auf den Weg. „Ich begleite ihn“, meinte Eric und lief hinter Korben die Turmtreppe hinunter und die Geheimgänge entlang. „Wir beide“, wandte sich die Fürstin an Melissa, „holen meine Elitetruppe über die Geheimgänge aus dem Turm heraus.“ Melissa nahm die Fürstin auf den Rücken und stieg mit ihrer zusätzlichen Last vorsichtig die Treppe des Turms hinab. „Die meisten Geheimtüren lassen sich nur von innen öffnen“, erklärte die Fürstin unterwegs. „Deshalb können die Leute nicht von alleine in die Geheimgänge flüchten. Andererseits schützt uns das auch vor den Verfolgern. – Zumindest eine Zeit lang.“
Während Korben und Eric die Bewohner aus den Schutzräumen evakuierten, öffnete Melissa nach Anweisung der Fürstin die Geheimtür zu dem breiten Turm, der nur noch unter großen Mühen von der Elitetruppe gehalten werden konnte. Zuerst waren die Soldaten erschreckt, als sich die Tür öffnete. Dann erkannten sie die Fürstin und waren erstaunt und erleichtert. „Ich wußte nicht, daß Ihr noch am Leben seid, meine Fürstin“, brach es erfreut aus dem Hauptmann der Elitetruppe hervor. „Kommt schnell in den Geheimgang. Wir haben keine Zeit für eine Wiedersehensfeier“, gab Larissa freundlich zurück. Der Hauptmann nahm Melissa die Fürstin ab. Und sie war froh, sich wieder ungehindert bewegen und gegebenenfalls kämpfen zu können. Die Soldaten wunderten sich zwar, als sie im Geheimgang auf Melissa stießen, beeilten sich aber zunächst, den Turm hinter sich zu lassen, der bereits begann, unter dem Beschuß der Katapulte zusammenzustürzen. Unterwegs erzählte Larissa dem Hauptmann ihrer Truppe kurz die Umstände ihrer Gefangenschaft und der Befreiung. Der Hauptmann war fassungslos über das Gehörte, trieb dann aber seine Soldaten an, um schnell den Geheimausgang zu erreichen. „Wir sollten zuerst mit den Soldaten den Gang verlassen“, schlug er seiner Fürstin vor. „Wenn draußen Feinde sind, können wir sie sofort bekämpfen.“ Larissa stimmte nach kurzem Überlegen zu. Dann erreichten sie den Ausgang, vor dem die evakuierten Bewohner mit Korben und Eric bereits warteten. Die Fürstin drehte sich zu Melissa und zeigte auf den perlmutschimmernden Bogen. „Kannst du damit umgehen?“, fragte sie gerade heraus. „Sie ist eine ausgezeichnete Bogenschützin“, mischte Eric sich nicht ohne Bewunderung ein. Melissa lächelte ihn an, während die Fürstin einwandte: „Ich meine, ob du mit DIESEM Bogen umgehen kannst.“ Melissa nickte. „Ich habe gelernt, mit solchen Zauberbögen zu schießen.“ „Dann bin ich froh, daß du ihn an dich genommen hast“, erwiderte Larissa. „Sobald die Geheimtür offen ist, unterstütze meine Truppen mit dem Bogen, falls Feinde in Sicht sind.“ Melissa nahm den langen Bogen und die speziellen Pfeile zur Hand und huschte gleich hinter den ersten Soldaten hinaus, als die Tür geöffnet wurde.
Es waren allerdings keine Feinde zu sehen. Und so verließen alle leise und vorsichtig den Gang. Der Ausgang befand sich am Rand eines an Falibor angrenzenden Waldstückes, so daß sich die Flüchtenden gleich darin verbergen konnten. Die Nacht näherte sich langsam dem Ende. Und obwohl alle erschöpft waren, gingen sie zügig weiter in den Wald hinein. Nachdem sie bis zum nächsten Abend weitergewandert waren und einigen Abstand zu Falibor mit den manitischen Truppen hatten, legten sie erschöpft eine Rast ein. Larissa bat Eric, Melissa und den Hauptmann ihrer Truppe zu sich. „Wir können noch tagelang weiterwandern, um mehr Abstand zu den Angreifern zu bekommen, aber ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie uns aufspüren werden“, begann sie. „Es wird Zeit, daß wir uns Gedanken machen, wie es weitergehen soll.“ Sie verstummte und schaute in die Runde. Einen Moment schwiegen alle. Dann sagte Eric: „Der einzige Ort, den ich kenne, an dem wir eine Chance haben, mit den Angreifern fertigzuwerden, ist Fendrich.“ „Früher oder später werden die Angreifer auch vor Fendrich nicht halt machen“, wandte Larissa ein. „Ich weiß“, antwortete Eric, „einen Bergtroll hatten sie bereits dort hingeschickt, bevor Westhoven angegriffen wurde. Allerdings scheint es die manitischen Truppen erschreckt zu haben, daß der Bergtroll nicht zurückkehrte. Das sollte uns Zeit verschaffen.“ Alle schauten ihn fragend an. „L..., ähm, der Walddämon von Fendrich und ich haben den Bergtroll erschlagen.“ Der Hauptmann schaute ungläubig auf Eric. „Zehn meiner besten Männer haben es vorhin nicht geschafft, mit einem Bergtroll fertig zu werden.“
„Na ja“, gab Eric zu, „eigentlich war es hauptsächlich die Kampfkunst des Walddämons, die den Bergtroll tötete. Und mein selbst geschmiedetes Langschwert. Die Bergtrolle der manitischen Armee haben nämlich Rüstungen an, die sich nur mit Schwertern aus Damaststahl zerstören lassen.“ „Du kannst also Waffen aus Damaststahl schmieden?“, fragte der Hauptmann noch immer mit einer Spur Zweifel. Statt einer Antwort reichte Eric ihm sein Langschwert. Der Hauptmann betrachtete es eingehend und gab es nicht ohne Anerkennung zurück. „Aber selbst mit so einem Schwert wären wir mit einem Bergtroll nicht fertig geworden“, gab der Hauptmann zu bedenken. „Ich auch nicht“, antwortete Eric. „Dazu bedurfte es schon der Fähigkeiten des Walddämons.“ Respekt und Bewunderung schwang in seiner Stimme mit. „Und der Walddämon hat einfach so Seite an Seite mit Dir gegen den Bergtroll gekämpft?“, mischte sich Larissa in die Unterhaltung ein. „Das ist eine längere Geschichte, von der ich auch nicht alles erzählen darf“, gab Eric zurück. „Aber ich denke, ich habe bereits bewiesen, daß ich kein Angeber bin, der sich Heldentaten ausdenkt“, fügte er mit Nachdruck hinzu. „Allerdings hast du das“, mischte Melissa sich ein, „sonst wäre niemand von uns hier und am Leben.“ Die anderen stimmten zu. Und die Fürstin ergänzte entschuldigend, daß es halt ziemlich ungewöhnlich sei, wenn jemand einen Walddämon zum Kampfgefährten habe. Sie entschieden sich schließlich, einen Marsch nach Fendrich zu versuchen, auch wenn sie zu Fuß und mit den zivilen Untertanen der Fürstin nur sehr langsam vorankommen würden. Später saß Eric noch alleine vor einem kleinen Feuer und starrte in die Flammen. Melissa kam zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Du siehst bedrückt aus“, sagte sie. „Ärgerst du dich noch wegen der Zweifel vorhin?“ „Nein, damit hat es nichts zu tun. Es ist“, er stockte, „ich habe gestern zum ersten Mal kaltblütig Menschen getötet.“ Er starrte weiter ins Feuer. „Nicht in Notwehr, wie bei dem Wolfsreiter oder bei dem Folterknecht, der sich eigentlich eher selbst umbrachte. Als wir die Leibgarde Atans getötet hatten, war das etwas anderes. Wir hätten sie auch fliehen lassen können. Sie hatten ja ohnehin keine Chance und wußten das auch sehr schnell.“ „Dann wären sie aber vielleicht mit Verstärkung wiedergekommen oder hätten uns an einer Ecke aufgelauert, wo sie uns hätten einkreisen können“, wandte Melissa ein. Eric nickte, schaute aber noch immer in das Feuer. „Schon. Aber ich WOLLTE sie töten.“ Einen Moment schwiegen sie beide. Dann antwortete Melissa: „Ich bin froh, daß du deshalb ein schlechtes Gewissen hast.“ Eric schaute sie fragend an. „Du wärst mir unheimlich, wenn du stolz darauf wärst“, fügte sie leise hinzu.
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Warte schon auf die Fortsetzung, vielleicht mit mehr erotischem Touch :-))«
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Er beweist damit auf schöne Weise, das in einer guten Geschichte durchaus Sex vorkommen kann.
Ich hoffe das er uns für lange Jahre erhalten bleibt. Wobei meine Vorlieben mehr zu SF Geschichten gehen. Aber das ist nur meine Meinung nur weiter so! «
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Ein paar Kritik punkte zu den Storys von why-not.
1. Sie sind für meinen geschmack noch viel zu kurz :-)
2. Sie machen süchtig
3. Sie sind absolut das beste was ich je gelesen habe
4. Es dauert VIIIEEELLL zu lange bis das die Fortsetzung kommt
Why-Not, tue mir mal einen gefallen....
BITTE BITTE BITTE SCHREIB SCHNELLER, ICH WILL WISSEN WIE ES WEITER GEHT *fleh flenn aufdenbodenfall* :-)
Goury
PS: Mumie, noch nie was von dem Wort Humor gehört?
Sowas ist sehr zu empfehlen, kann ich dir nur zu raten.
Damit meinte ich den satz mit den 3 BITTE drin, meinst du im ernst ich würde den besten Autor den ich kenne unter zeitdruck setzen?
Gut ding will Weile haben, Weltraumkitzel und Tödliches Lachen wurden ja auch nicht an einem Tag geschrieben.«
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Superlative wie gigantisch oder genial fallen mir noch ein.«
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Ich werde mich Goury nicht in vollem Umfang anschließen, weil hier die freie Meinungsäußerung doch durchaus erwünscht und erlaubt ist, ich also Hexe2805s Meinung aus diesem Grund auch als Schreiber tolerieren würde. Ich denke, dann können wir das als Leser auch tolerieren, oder?
Des Weiteren schreibt man Fortsetzung mit FFFFF, das Beste groß, und tue (ohne h) mir den Gefallen und versuche nicht, den Autor unter Schreibdruck zu setzen.
Ich bin von Why-Nots Art, wie er erotische Geschichten dieses Genres mit so viel Einfühlungsvermögen schreibt, schwer begeistert. Zudem gönnt er dem Leser auch den Genuss, Werke von wirklich ansprechender Länge zu lesen. Weniger Sex muss nicht zwangsläufig weniger Erotik bedeuten.
Stilistisch natürlich wie immer sehr gut. Danke Why-Not.
Goury, erst denken, dann tippen. Ich empfehle zudem einen Benimmdich-Kurs.
Grüße von der Mumie.
PS: Goury: Humor? Wo denn? «
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Deswegen hier mein Vorschlag wie wär's mit einer Why-Not Kategorie??
Zumindest aber sollte so langsam ein Preis verliehen werden für den besten und fleissigsten Schreiberling!!!
In diesem Sinne. GIbio «
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*gratulation*
weiter so....
Ich finde die Geschichte genau richtig, nen bisl wenig erotik, ok aber das kommt vieleicht ja noch, wer sonnst irgendwas anderes will MAG BITTE SELBER SCHREIBEN.....
«
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warte schon auf die Fortsetzung, am besten noch so 20 teile oder so :-)«
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Liebe Grüße
yksi«