Unsichtbare Hände
von Träume
Das Zimmer ohne Fenster
Die 19-jährige Clara war nie jemand, der lange überlegte. Sie war neugierig, abenteuerlustig und sexpositiv – jemand, der neue Erfahrungen suchte, anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen. Als sie an einem trüben Herbstmorgen in ihrer Jackentasche eine kleine Karte fand, war für sie sofort klar: Sie musste der Spur folgen.
Die Karte war unscheinbar, cremefarben, ohne Absender, ohne Namen. Nur eine Adresse, eine Uhrzeit, kein weiteres Wort. Je öfter sie sie ansah, desto sicherer wurde Clara, dass sie bestimmt war, hinzugehen.
Das Haus
An jenem Abend stand sie vor einem unscheinbaren Stadthaus, irgendwo in einem älteren Viertel, in dem die Fassaden bröckelten und die Straßenlaternen flackerten. Das Haus wirkte verlassen, doch ein schwaches Licht im dritten Stock zog ihren Blick magisch an.
Clara zögerte nicht lange. Der schwere Türgriff fühlte sich kalt an, doch die Tür gab ohne Widerstand nach. Drinnen war es still, nur das Knarzen der Stufen unter ihren Schritten begleitete sie, während sie die enge Treppe emporstieg.
Oben angekommen, sah sie einen Flur, nur von einigen Kerzen erhellt, die in schmiedeeisernen Haltern steckten. Das Licht warf lange Schatten, die sich über die Tapete zogen. Eine Tür war angelehnt. Dahinter brannte mehr Kerzenlicht.
Clara stieß sie auf.
Das Zimmer
Der Raum war groß, aber ohne Fenster. Schwere, dunkle Vorhänge bedeckten die Wände. Nur ein einziger, riesiger Spiegel dominierte die Stirnseite. Sein Rahmen war aus dunklem Holz, reich verziert, beinahe zu schwer für die Wand.
„Du bist gekommen“, hörte sie eine Stimme, tief und warm, doch ohne erkennbare Richtung.
Clara wirbelte herum. Niemand war zu sehen. Nur ihr Spiegelbild sah sie an – mit einem Ausdruck, der ihr seltsam fremd vorkam.
„Wer ist da?“, fragte sie leise, beinahe mehr zu sich selbst.
Die Stimme flüsterte: „Du wirst nicht sehen, nur fühlen.“
Die unsichtbare Begegnung
Clara spürte ein Kribbeln über den Nacken laufen. Plötzlich streifte etwas Warmes ihre Haut – ein Atem, direkt an ihrem Ohr. Sie zuckte zusammen, drehte sich blitzschnell um. Leere.
Im Spiegel jedoch schien sie nicht allein: Ihr eigenes Spiegelbild stand da, genau wie sie, und doch … da war Bewegung. Als ob unsichtbare Hände sie führten.
Eine Berührung an ihrer Schulter ließ sie den Atem anhalten. Fingerspitzen, warm und bestimmt, glitten langsam über ihren Arm, hinunter zu ihrer Taille. Sie schloss die Augen, ein Zittern durchlief sie. Ihr Körper spannte sich an – und gleichzeitig gab sie sich diesem unsichtbaren Spiel hin.
Die Berührungen wurden intensiver. Unsichtbare Hände umfingen ihre Hüften, zogen sie näher an einen Körper, den sie nicht sehen konnte, den sie jedoch deutlich spürte. Ihre Atmung beschleunigte sich, ein leiser Laut entwich ihren Lippen.
Es fühlte sich an, als hätte sie Sex mit einem unsichtbaren Liebhaber – jede Bewegung, jeder Druck war da, real, zwingend, und doch war niemand vor ihr. Nur im Spiegel sah sie sich, wie sie sich hingab, wie ihr Körper sich bewegte, geführt von Kräften, die niemand außer ihr wahrnahm.
Die Kerzen flackerten wild, als würden sie im Rhythmus ihres Atems tanzen. Claras Spiegelbild wirkte lebendiger als sie selbst, fast so, als sei es das eigentliche Original – und sie nur die schwächere Kopie.
Dann, im Moment größter Intensität, erloschen alle Kerzen gleichzeitig. Absolute Dunkelheit umhüllte sie. Sie hörte ihren eigenen Herzschlag, hörte einen Hauch von Flüstern:
„Du wirst wiederkommen.“
Der Morgen danach
Als Clara die Augen öffnete, lag sie in ihrem eigenen Bett. Nackt, schweißbedeckt, der Puls noch unruhig. Neben ihr auf der Decke lag die Karte.
Diesmal stand eine neue Uhrzeit, ein neuer Ort darauf.
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